Guten Morgen, Herr Torberg!

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Ich bin jung. Ich bin eine Frau. Ich will in den Journalismus. In der Männergesellschaft der Fünfzigerjahre: meine Zeit in der Redaktion der „Presse“.

Eines Tages, Wien Anfang 1956, folgtauf eine endlose Kette von Gelegenheitsjobs endlich mein richtiger Beruf. Ich habe ein paar kleine Texte geschrieben und sie an die „Presse“ geschickt. Und wirklich, die Zeitungdruckt meine Versuche. Man bietet mir sogar einen Job in der Lokalredaktion an.

Die Redaktion der „Presse“ ist in jenen Anfangsjahren eine Etage in der Universitätsstraße. Eine Setzerei im Hause gibt es nicht. Wir schreiben unsere Manuskripte auf riesigen, laut klappernden Underwood-Schreibmaschinen, und der Redaktionsdiener, Herr Soukup, fährt damit auf seinem Moped in die Setzerei in den neunten Bezirk. Wir sitzen zu fünft in der Lokalredaktion, ich bin die einzige Frau. Gegen fünf Uhr Nachmittag, wenn sich der Redaktionsschluss nähert,wandert Herr Derka, der Lokalchef, nervös zwischen den Schreibtischen auf und ab und stößt seinen gefürchteten Klageruf aus: „Manus, Manus!“ Dann heißt es schnell machen. Herr Soukup wartet.

Ludwig Derka ist ein alter Herr, ein Relikt aus der Zwischenkriegszeit, in der er bei der „Kronen Zeitung“ gearbeitet hat. Er kennt viele Geschichten aus der Frühzeit des Wiener Journalismus. Zum Beispiel, wie ein Kollege eine Agenturmeldung mit der Ortsangabe Lake Hurst ungelesen in den Papierkorb warf, mit dem verächtlichen Ausruf: „Ach was, Lake Hurst“, ausgesprochen wie Backe Wurst.Sein Pech: Es handelte sich um die Meldungüber den Absturz desLuftschiffs „Graf Zeppelin“, eine Weltsensation.Ähnliches unterlief noch früher einem Wiener Zeitungsmann beim tödlichen Attentat auf die Kaiserin Elisabeth in der Schweiz. Die Meldung begann: „Ihre kaiserliche und königliche Majestät“ – und behandelte den Fortgang von deren Reise in die Schweiz. Dass die Kaiserin ermordet worden war, stand erst am Schluss, und so weit las der Journalist nicht.

Herr Derka ist ein braver Mann, aber auch ein alter Schürzenjäger. Während er auf unsere Berichte wartet, die über seinen Tisch gehen, liest er gern die „Mutzenbacher“, den Wiener Pornoklassiker. Und wenn ich mein Manus abgebe, muss ich aufpassen, dass ich mich in gebührender Distanz halte, umGrapscher zu verhindern. Er liebt anzüglicheBemerkungen und freut sich diebisch, wenn ich rot werde. Und auch meine Kollegen, alles nette Kerle, die der Anfängerin solidarischbeistehen, sind nicht abgeneigt, die neue Junge ein bisschen in Verlegenheit zu bringen. Das ist alles nicht böse gemeint. Es ist zu jener Zeit eben der Stil. Und auch mir liegt feministische Empörung fern. Ich bin schon froh, wenn ich nicht durch ein unbedachtes Wort in eine Falle tappe und allgemeines wissendes Grinsen provoziere.

Selbstbewusste berufstätige Frauen sind in meiner von der Nazizeit geprägten Generation noch selten. Von meiner Salzburger Gymnasialklasse haben nur vier Mitschülerinnen ein Studium abgeschlossen. Die anderen, alles patente Frauen, arbeiten zwar zunächst, geben aber nach der Heirat sofort den Beruf auf und begnügen sich damit, für Mann und Kinder da zu sein.

Zur „Presse“-Redaktion stößt später Ilse Leitenberger, eine kleine, energische, emanzipierte Person, die bald stellvertretendeChefredakteurin wird. Und wir alle kennen Elisabeth Thury, Leiterin der Innenpolitik in der „Austria Presse Agentur“ und Doyennedes Wiener Journalismus. Frau Thury ist eine große, dicke, mächtigeFrau mit sorgfältig frisierten dunklen Löckchen. Man sieht ihr an,dass sie einmal attraktiv war. Keine Pressekonferenz kann beginnen, bevor sie gravitätisch wie ein Schlachtschiff hereingesegelt ist und in der ersten ReihePlatz genommen hat. Sie ist mit mehreren Ministern per Du und genießt hohes Ansehen, sowohl in der eigenen Branche als auch bei den Politikern. Dabei stand sie in den Dreißigerjahren als Angeklagte im Mittelpunkt zweier Skandalprozesse. Jedes Mal ging es um Mordversuch mit Gift. Elisabeth Thury, von Haus aus eine serbische Fürstin, hatte versucht, die Ehefrauen ihrer Liebhaber aus dem Weg zu räumen. Sie landete im Gefängnis, kam aber nach kurzer Zeit frei. Ihr Auftritt vor Gericht war so eindrucksvoll, dassKarl Kraus in der „Fackel“ schrieb, die Beschuldigte sei um vieles gescheiter als die Richter, die sie verurteilt hatten. In der Nazizeit war sie im Widerstand und kam ins KZ. Für uns Junge ist sie eine legendäre Figur.

Aber es gibt noch andere Originale in der Wiener Zeitungsszene der Fünfziger- und Sechzigerjahre. 1956, in meinem ersten Jahr dort, übersiedelt die „Presse“ von der Universitätsstraße auf den Fleischmarkt, in jenes Gebäude, in dem einmal das „Neue Wiener Tagblatt“ hergestellt wurde. Nun sind wir in einem richtigen Zeitungshaus mit einer eigenen Setzerei. Dort regiert Herr Häuser, der Umbruchsredakteur. Er sieht aus wie ein Heldentenor, und auch sein Auftreten würde jeder Opernbühne zur Ehre gereichen. Groß und stattlich, mit wehendem weißem Haar und einem karierten Cape, das er nach Künstlerart über die Schultern geworfen hat. Dazu trägt er einen breitkrempigen Hut à la Makart. In der Setzerei waltet er seines Amtes mit Donnerstimme. Einmal bin ich Zeugin, wie der Chefmetteur bei einem der berüchtigten Häuser-Ausbrüche seelenruhig erklärt: Herr Häuser, wenn Sie so schreien, macht mich das so nervös, dass mir das Schiff aus der Hand fallen könnte. Das Schiff ist der Rahmen mit dem Bleisatz der fertig umbrochenen Zeitungsseite. Wenn es zu Boden fällt, gibt es einen sogenannten Blattsalat. Eine Katastrophe, denn das bedeutet, dass alles neu umbrochen werden muss und der Andruck versäumt wird.

Ich liebe die Setzerei und bin froh, wenn ich zum Spätdienst eingeteilt werde. Der Spätdienst-Redakteur muss bis zum Andruckim Haus bleiben und im Fall einer Sensation, die am Abend ausbricht, das Blatt mutieren. Es gefällt mir in der großen düsteren Halle. Die Setzmaschinen rattern, es riecht nach Blei und Druckerschwärze. In einem Glasverschlag sitzt der Korrektor mit seinem Duden. Ich lerne die Branchensprache. Lokalspitzen sind kleine Meldungen, die man einschieben kann, wenn irgendwo ein Text zu kurz ist. Garmond, Petit und Nonpareille sind die Schriftgrößen. Ein Hurenkind ist eine Zeile, die über die Spalte überhängt.Dann muss man den Text kürzen und dafür sorgen, dass das Hurenkind verschwindet. Wenn ich spätabends von der Setzerei nach Hause in mein Untermietzimmer gehe, führt mein Weg durch die Kärntner Straße. Dort ist zu diesem Zeitpunkt das Nachtleben in vollem Gange. Die eleganteste Wiener Einkaufsstraße ist auch die Rotlichtzone. An den Ecken zu den Seitengassen stehen die Damen und warten auf Kundschaft. Bei der Annagasse, wo es mehrere Nachtlokale gibt, hat eine große Blonde mit einem Hündchen ihren Standplatz. Wir kennen einander jetzt schon vom Sehen. Wenn ich vorbeigehe, nicken wir uns freundlich zu. Zwei Frauen, die um diese Zeit arbeiten müssen. Verrucht und gefährlich ist das nächtliche Wien in diesen Jahren nicht, jedenfalls nicht in der Kärntner Straße.

Die großen Kaliber der „Presse“-Redaktion bekomme ich als jüngstes Mitglied und kleinstes Rädchen in der Zeitungsmaschinerie nur selten zu sehen. Aber manchmal nehme ich doch an der Redaktionskonferenz teil, und das ist jedes Mal ein Erlebnis. Leiter der Innenpolitik ist Hans Mauthe, ein knorriger Nationalliberaler, Vater des Schriftstellers und späteren Stadtrats Jörg Mauthe. Er sitzt meist grantig dabei und hört zu, wie die anderen diskutieren. Man sieht ihm an, dass er das meiste, das gesagt wird, für Blödsinn hält. Und einmal steht er auf, sagt: „Leckt's mich doch alle am Arsch!“ – und verlässt das Zimmer. Milan Dubrovic, der Chefredakteur, läuft ihm auf den Gang nach und ruft: „Mauthe, Mauthe, jetzt sei doch nicht so!“ Dubrovic ist ein Mann von großem Charme, er sieht, dalmatinischer Gentleman, der er ist, hinreißend aus und ist einer aus der schwindenden Schar jener, die noch die große Zeit der Wiener Literatencafés erlebt haben. Die für uns schon ins Mythische entrücktenGrößen von damals, Joseph Roth und Franz Werfel und Milena Jesenská, Kafkas Briefpartnerin, kannte er alle persönlich. Er ist auch ein enger Freund von Friedrich Torberg. Als dieser 1951 aus der Emigration nach Wien zurückkehrte, war es Dubrovic, der den Empfang in Torbergs ehemaligem Stammcafé, dem Herrenhof, inszenierte. Torbergs erster Weg führte natürlich ins Kaffeehaus. Und dort begrüßte ihn der Ober, es war noch derselbe wie vor dem Krieg, als sei der Gast erst gestern da gewesen. „Guten Morgen, Herr Torberg, die ,Presse‘ und einen kleinen Schwarzen wie immer?“ Als wäre nichts gewesen. Und als könnte man wieder genau dort anfangen, wo man 1938 aufgehört hatte.

Eine nette Geschichte, aber für mich auch ein bisschen beklemmend. Denn natürlich ist nichts so, wie es gewesen ist. Und natürlich hat man auch nicht dort wieder angefangen, wo man aufgehört hat, nicht zuletzt deshalb, weil das Personal von Grund auf gewechselt hat. In der „Presse“, dem einstigen „Judenblatt“, arbeitet kein einziger Jude mehr. Und genau wie in der Volksschule, im Gymnasium, auf der Universität ist auch in der „Presse“ die Nazizeit kein Thema. UnsereThemen sind andere: der Wiederaufbau, der wachsende Wohlstand, die Konsolidierung der bürgerlichen Welt. Der österreichische Staatsvertrag ist unter Dach und Fach. Oper und Burgtheater spielen wieder. Der Opernball ist ein großes Ereignis. Die ausländischen Diplomaten sind wieder da, und in dendiversen Botschaften und Gesandtschaften entwickelt sich ein reges gesellschaftliches Leben.

Wir bringen eine Serie über die ausländischen Vertretungen in Wien. Ich werde ausgeschickt, um den Konsul eines kleinen lateinamerikanischen Landes zu interviewen. Es zeigt sich, dass es ein älterer jüdischer Geschäftsmann ist, der in jenem Land in der Emigration war und dieses jetzt in Österreich vertritt. Was ich und auch mein neuer Lokalchef, Thomas Chorherr, von diesem Interview erwarten, ist eine Geschichte über glänzende Diplomatenempfänge, die Schönheit Wiens, die guten Beziehungen Österreichs zum Land des Konsuls und zur Welt im Allgemeinen. Aber dazu ist mein Gesprächspartner nicht ganz der Richtige. Er blickt mich skeptisch an und denkt vermutlich: Ihr Jungen habt wirklich von nichts eine Ahnung. Und erzählt ein wenig vom „Anschluss“ Österreichs, von Hitlers Empfang auf dem Heldenplatz, vom Novemberpogrom, von den brennenden Synagogen und von den Wiener Juden, die die Straßen waschen mussten. Ich bin starr. Das habe ich alles so noch nie gehört. Dass es diese Ereignisse gab, weiß ich wohl, aber nur vage und gleichsam abstrakt. Plötzlich sind sie real und haben ein Gesicht, das Gesicht des älteren Herrn, der mir da gegenübersitzt. Und meine vorbereiteten Fragen kommen mir auf einmal unsäglich banal und albern vor. Ist mein Interview je erschienen? Ich weiß es nicht mehr.

Ich bin jung, ich bin eine Frau, und Herr Derka teilt mir die sogenannten weiblichen Themen zur Berichterstattung zu. Ich schreibe über eine Hundeausstellung, über durchreisende Filmschauspieler, über neue Kindergärten. Aber einmal ist der zuständige Reporter nicht da, und ich werde zu einem Straßenbahnunfall geschickt, bei dem der Fahrer zu Tode gekommen ist. Bei den Wiener Blättern ist es üblich, dass man in solchenFällen zur Familie geht und ein Foto des Verunglückten erbittet. Ich tue das und erkenne zu meinem Entsetzen, dass die Frau des Straßenbahners vom Tod ihres Mannes noch nichts weiß. Ausgerechnet ich, die neugierige Reporterin, bin es, die ihr die Nachricht überbringen muss. Wir sitzen gemeinsam in der Küche der Gemeindewohnung, die Straßenbahnerfrau und ich, und heulen. Und ich denke mir: Nie wieder so was.

Mit Politik haben wir Lokalreporter nichts zu tun. Das tut mir nicht leid. Unsere Kollegen von der Innenpolitik können nicht einmal davon träumen, den Politikern kritische Fragen zu stellen. Erst Bruno Kreisky führt Jahre später ein, dass die Journalisten nach dem Ministerrat den Regierungsmitgliedern spontan Fragen stellen dürfen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren ist ein Interview mit dem Bundeskanzler eine Gnade, die auserwählten Journalisten gewährt wird; die Fragen müssen vorher schriftlich eingereicht werden.

Aber im Jahre 1956 gibt es ein politisches Ereignis, das uns alle elektrisiert: der Aufstand in Ungarn. Atemlos verfolgen wir am Radio, wie die Intellektuellen vom Petöfi-Klub Meinungsfreiheit verlangen und durchsetzen, wie der verhasste Parteichef Rákosi gestürzt wird, wie es eine kurze Weile nach Reform aussieht, wie schließlich die Russen intervenieren und alles kaputtschießen. Unser Chefredakteur, Fritz Molden, in jungen Jahren ein Abenteurer, ist jetzt wieder in seinem Element. Er fährt nach Ungarn, interviewt den später hingerichteten RevolutionsheldenPál Maléter und erlebt das Einrücken der sowjetischen Panzer. Ich wäre liebend gern nach Ungarn gefahren, doch das kommtnatürlich nicht infrage. Aber ich darf über die Hilfe berichten, die den ungarischen Flüchtlingen in Österreich zuteil wird. Und die ist wirklich beachtlich.

Leopold Ungar und seine Caritas übertreffen sich selbst. Scharen von Freiwilligen melden sich und schwärmen aus, an die Grenze, ins große Flüchtlingslager Traiskirchen, in zahllose Hilfsstellen, wo Essen, Kleidung, Medikamente ausgegeben werden. Plötzlich wird deutlich, wie viele Menschen es in Wien gibt, nicht zuletzt in den Kreisen der sogenannten Gesellschaft, die aus familiären Gründen Ungarisch sprechen. Und alle wollen helfen, nicht immer sehr professionell. Eine junge Frau aus meinem Bekanntenkreis telefoniert von einer Auffangstation an der burgenländisch-ungarischen Grenze aus mit einer Freundin in Wien. Sie hat die ganze Nacht gearbeitet und ist todmüde. „Jetzt wünsche ich mir nur noch ein Bett“, sagt sie. Die Freundin versteht „Fett“. Und am nächsten Tag steht ein Kombiwagen mit Schmalzpaketen vor der Tür.

Wer Platz hat, nimmt Flüchtlinge auf. Auch in der Wohnung, in der ich jetzt in Untermiete wohne, ist jedes Eckchen belegt. Meine Wirtin hat ungarische Verwandte, die zunächst bei ihr Unterschlupf finden. Margit ist total erschöpft und möchte sich jetzt vor allem ordentlich ausschlafen. Dénes ist charmant und abenteuerlustig und lacht sich in Blitzesschnelle eine österreichische Freundin an. Und Etelka ist auch in geschenkten Kleidern schick. Sie ist eine ausgezeichnete Bridgespielerin und bald in allen Wiener Clubs zugange. Sie gewinnt immer und lebt von dem Geld, das sie dabei verdient. „Jetzt gehe ich in die Arbeit“, sagt sie, wenn sie zum Bridgespielen aufbricht.

Wir alle lieben und bewundern die ungarischen Freiheitskämpfer, und wir hassen die Kommunisten, die den Aufstand niedergeschlagen haben. Und ausgerechnet die Kommunisten wagen es kaum drei Jahre später, ihre Weltjugendfestspiele in Wien abzuhalten, der Hauptstadt des neutralen Österreich. Diese „Festspiele der Jugend und der Studenten“ sind den Olympischen Spielen nachempfunden und vereinen jugendliche Sportler aus verschiedenen Ländern, nicht zuletzt aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Natürlich sind auch die kommunistisch regierten Staaten Osteuropas stark vertreten und die Staaten, in denen die kommunistischen Parteien stark sind, wie Frankreich und Italien. Die österreichischen Zeitungen mit Ausnahme der kommunistischen „Volksstimme“ einigen sich darauf, dieses Ereignis zu ignorieren. Man wird darüber einfach nicht berichten.

Große Diskussion in der Redaktionskonferenz. Denn es heißt, dass auch Jean-Paul Sartre, damals Sympathisant der KP Frankreichs, nach Wien kommen wird. Was sollen wir da machen? Sartre ist eine Weltberühmtheit. Ihn auch ignorieren? Ja, ist die einhellige Meinung.Und was, wenn er ausgerechnet inWien eines Tages von der Straßenbahnangefahren werden sollte? Schwierige Frage. Dann hat jemand die rettende Idee. Wir schreiben eine Lokalmeldung: „Der Schriftsteller Jean-Paul S. wurde am Donnerstag in der Westbahnstraße von der Straßenbahn der Linie 49 angefahren und verletzt.“ Und fertig. Das Dilemma bleibt uns erspart. Sartre kommt am Ende doch nicht.

Die Kommunistenfestspiele sindschlecht, aber soll man die vielen jungen Leute, die da in ein freies Land kommen, auch ignorieren? Die Jugendorganisationen planen Gegenveranstaltungen, in denen Demokratie propagiert werden soll. Und es wird eine Antifestival-Zeitung herausgegeben, in mehreren Sprachen, sie wird bei uns im Pressehaus produziert und an die Festivalteilnehmer gratis verteilt. Junge Journalisten aus Amerika bilden die Redaktion, unter ihnen auch eine schöne Blondine namens Gloria Steinem. Sie wird später die Frontfrau der amerikanischen feministischen Bewegung.

Es gibt Kommunisten im friedlichenÖsterreich, aber es gibt auch Rechtsradikale. Im Jahre 1959 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag Friedrich Schillers. Die deutschnationalen Verbände im Lande nehmen das zum Anlass für eine große Manifestation. Man will zeigen, dass man sich der deutschen Nation zugehörig fühlt und mit dem neuen, verhassten Begriff der österreichischen Nation nichts am Hut hat. Es wird einegroße Sache. Die Ringstraße ist abgesperrt. Und in langem Zuge marschieren Männer und Frauen daher. Man sieht viele Kriegsorden. Und viele Hakenkreuze. Es ist alles sehr zackig. Die „Schillerfeier“ sieht einer Nazidemonstration verdammt ähnlich.

Ich soll darüber berichten und gehe mit einigen meiner Künstlerfreunde hin. Wir staunen. Und wir sind empört. Ich schreibe meine Geschichte und suche sie am nächsten Tag in der Zeitung. Ich habe eine große Aufmachung erwartet. Tausende Rechtsradikale auf der Ringstraße, denke ich mir, das ist schon etwas. Aber nein. Ich finde meinen Bericht, stark zusammengekürzt, als bescheidenen Zweispalter im Inneren des Blattes. Auf der Lokalseite.

Die „Presse“ ist durchaus kein Naziblatt. Aber es entspricht dem Stil der Zeit, über kontroverse politische Themen lieber nicht zu diskutieren. Es ist Kalter Krieg, das ist Politik genug. Da weiß man wenigstens klar, wer der Feind ist. Über alles andere schweigt man besser. Die Nazizeit ist noch nicht so lange her, zu viele gibt es, die ihr nachtrauern. Wozu in Wunden herumstochern, unangenehme Fragen stellen? Das große Schweigen regiert. Und es wird noch dauern, bis es gebrochen wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2013)

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