Gastkommentar

Wenn der Nationalismus in der Fremde gedeiht

Peter Kufner
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Dass Recep Tayyip Erdoğan in Mitteleuropa so viele Wählerstimmen sammeln konnte, sollte nicht verwundern. Sein Aufruf an türkische Landsleute im Ausland, sich der Assimilierung zu widersetzen, ist politisches Kalkül.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan war für seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl wahrscheinlich nicht auf die Stimmen der Deutsch- oder der Niederländisch-Türken angewiesen. Trotzdem hat Erdoğan bei den Wahlberechtigten im Ausland eine klare Mehrheit erzielt, unter anderem fast 70 Prozent der Stimmen in der Bundesrepublik Deutschland und in den Niederlanden, gar 74 Prozent in Österreich.

Nun nehmen nicht alle Deutsche oder Niederländer mit türkischen Wurzeln an Wahlen in der Türkei teil. Daher sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen.

Trotzdem sieht es so aus, als wäre rechtspopulistischer türkischer Nationalismus für Türken mit doppelter Staatsbürgerschaft sehr attraktiv. Und diese Diaspora-Nationalisten bringen ihre Überzeugungen auch besonders lautstark zum Ausdruck, wenn sie hupend und politische Slogans rufend durch mitteleuropäische Innenstädte fahren und den Sieg Erdoğans feiern.

Plärrende Trotzgesten

Diese Demonstrationen sind in gewissem Maße Trotzgesten, eine plärrende Form von Identitätspolitik, die der Mehrheitsbevölkerung zeigt, dass auch die ethnische Minderheit eine Stimme hat. Sie repräsentieren aber auch einen allgemeinen Trend: In vielen Fällen sind Immigranten in Bezug auf die Politik in ihrem Herkunftsland extremer als ihre Landsleute, die immer noch dort leben.

Separatistische Sikhs beispielsweise, die in der Region Punjab einen unabhängigen Staaten namens Khalistan errichten wollen, vertreten ihr Anliegen in Kanada oder in Großbritannien manchmal lautstärker als in Indien. Die IRA erhielt großzügige finanzielle Spenden von Amerikanern mit irischen Wurzeln. In manchen Teilen Großbritanniens wächst und gedeiht der Hindu-Nationalismus, und radikale Islamisten finden in zahlreichen westeuropäischen Städten geradezu ideale Rekrutierungsbedingungen.

Zum Teil spiegelt dieses Phänomen sicher die größere politische Freiheit im Westen wider. Es gibt aber auch andere Faktoren, die erklären, warum sich viele Einwanderer der zweiten Generation von rechtsgerichtetem Nationalismus angesprochen fühlen.

Eine weit verbreitete Erklärung ist die relativ schlechte Integration von Angehörigen nicht westlicher oder nicht christlicher Minderheiten, die in Europa geboren sind. Dafür werden oft Rassismus und Vorurteile der Mehrheitsbevölkerung verantwortlich gemacht. Oder es werden extremistische Geistliche angeführt, die in Moscheen und an anderen religiösen Versammlungsorten radikale Botschaften verbreiten und sogar zur Gewalt aufrufen.

Vom Rockfan zum Mörder

An diesen Argumenten ist sicher etwas Wahres dran. Es ist weder neu noch überraschend, dass Einwanderer der zweiten und dritten Generation aus Ländern mit ganz anderen kulturellen und religiösen Traditionen es schwer und manchmal auch demütigend finden, sich in ihrem Geburtsland anzupassen oder zu assimilieren. Verschärft wird dieses Problem durch das Gefühl einer zunehmenden Entfremdung von ihrem ursprünglichen Heimatland, das viele Immigranten empfinden.

In meinem Buch „Die Grenzen der Toleranz“ erzähle ich die Geschichte von Mohammed Bouyeri, einem in den Niederlanden geborenen Sohn marokkanischer Einwanderer. Zunächst erscheint Bouyeri als perfekt integrierter Einwanderer der zweiten Generation, der Fußball, Bier und Rockmusik liebt.

Nach einigen persönlichen Rückschlägen radikalisiert er sich jedoch und wird zu dem islamistischen Revolutionär, der 2004 den bekannten niederländischen Islamkritiker Theo van Gogh ermordet. In seinem Geburtsland fühlt er sich als Außenseiter missachtet, aber nach einer Reise ins marokkanische Dorf seiner Eltern erkennt er, dass er auch dort nicht hineinpasst.

Erst eine besonders extreme Form des Islamismus, die über ein Netzwerk revolutionärer Websites in englischer Sprache verbreitet wird, gibt Bouyeri ein Gefühl des Stolzes und der Zugehörigkeit. Nachdem er sich sowohl von den Niederlanden als auch von Marokko entfremdet hat, findet er Zugehörigkeit in einer Gruppe wütender, rachsüchtiger Außenseiter, die der Welt, wenn nötig mit Gewalt, zeigen wollen, dass mit ihnen zu rechnen ist.

Diese Entfremdung kann sehr viel Schaden anrichten und betrifft sowohl die Einwanderergemeinden im Inland als auch die politische Dynamik im Ausland. Extremisten stellen zwar nur eine kleine Minderheit, ihre Taten fallen jedoch auf die gesamte Gemeinschaft zurück.

Selbsternannte Sprecher

Jeder islamistische Gewaltakt beispielsweise setzt friedliche Muslime und sogar solche, die nie einen Fuß in die Moschee setzen, unter Druck und zwingt sie immer wieder zu beweisen, dass sie keine gemeinsame Sache mit Terroristen machen.

Radikale Vertreter religiöser oder ethnischer Minderheiten sind natürlich aktiver als die meisten Menschen, die einfach nur in Ruhe ihr Leben leben wollen. Trotzdem tun die Radikalen oft so, als würden sie ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe repräsentieren.

So erhielt Gurpreet Kaur Bhatti, eine britische Dramatikerin aus der Gemeinschaft der Sikh, Todesdrohungen und musste untertauchen, nachdem sie ein Stück über Gewalt in einem Sikh-Tempel geschrieben hatte. Dass eine Aufführung des Stücks nach Protesten abgesagt wurde, bezeichnete ein Sprecher der Protestierenden als Sieg für die Sikh-Community. Aber leider sprechen nationale und lokale Politiker oft gerade mit diesen nicht gewählten Sprechern, obwohl die Aktivisten und Protestierenden gar nicht die Meinung ihrer sogenannten Communities vertreten.

Erdoğans Fantasien

Die Mehrheit der Sikhs, Hindus, Kurden, Türken und anderer Minderheiten sind weder Extremisten noch Anhänger eines ethnischen Nationalismus. Aber die meist noch jungen Menschen, die sich weder in dem Land, in dem sie geboren sind, noch anderswo zu Hause fühlen, füttern Vorurteile und Aggression in der Mehrheitsgesellschaft und fördern den Aufschwung extremistischer Bewegungen in den Ländern, die ihre Eltern oder Großeltern verlassen haben.

Recep Tayyip Erdoğan ist ein kluger und zynischer politischer Stratege, der keinen Abschluss in Soziologie braucht, um die Probleme türkischer Einwanderer in Europa zu kennen. Er weiß, dass seine Fantasien von osmanischer Pracht und religiöser und ethnischer Reinheit bei Einwanderern mit einer fragilen Identität Anklang finden. Auch deshalb ruft er türkische Bürger im Ausland dazu auf, sich der Assimilierung zu widersetzen. Das macht zwar den Einwanderern das Leben schwer, hilft Erdoğan aber an den Wahlurnen. Und darum geht es.

Copyright: Project Syndicate, 2023.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Ian Buruma (* 1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York. Zahlreiche Publikationen; zuletzt „The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit“ (Penguin, 2020).

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