Gastkommentar

Ist Prigoschin Russlands neuer Rasputin?

(c) Peter Kufner
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Wie kann Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner mit seinen Angriffen gegen Russlands Militär durchkommen?

Die Autorin

Nina L. Chruschtschowa (* 1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urnkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin an der New School. Zuletzt erschien mit Jeffrey Tayler „In Putin‘s Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia‘s Eleven Time Zones“ (2019).

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verlief zumindest nicht nach Plan. Nun verschärft Jewgeni Prigoschin, Chef der privaten Söldnergruppe Wagner, seine öffentlichen Angriffe auf das russische Militär. Wie kann er damit durchkommen in einer Zeit, in der der Kreml aggressiv gegen Andersdenkende vorgeht?

Präsident Wladimir Putin hat seit Beginn seiner „militärischen Sonderoperation“ im Februar 2022 erklärt, dass er eine Vielzahl von Zielen verfolge. Nach der „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der gesamten Ukraine (durch Übernahme der Kontrolle) wollte er die östliche Donbass-Region „befreien“. Er sprach auch von der Verteidigung der „historischen Grenzen“ Russlands und behauptete, der Westen habe ihn zum Angriff auf die Ukraine gezwungen.

Diese rhetorischen Wendungen spiegeln die Dynamik auf dem Schlachtfeld wider – insbesondere die wiederholten Rückschläge, Fehler und Fehleinschätzungen der russischen Streitkräfte. Putin versucht also, sein Gesicht zu wahren. Doch Prigoschin – von dem Putin für Siege auf dem Schlachtfeld zunehmend abhängig ist – macht es ihm nicht leicht.

In einem Interview mit dem kremlnahen Blogger Konstantin Dolgow, das am 24. Mai veröffentlicht wurde, kritisierte Prigoschin den Militäreinsatz. Statt die Ukraine zu entnazifizieren, so Prigoschin, habe Russland sie „weltberühmt“ gemacht. Und statt die Ukraine zu „entmilitarisieren“, habe Russland sie militarisiert: „Wenn [die Ukrainer] vorher 500 Panzer hatten, haben sie jetzt 5000. Wenn es damals nur 20.000 gut ausgebildete Kämpfer gab, sind es jetzt 400.000.“ Prigoschin machte vor allem die russischen Eliten, insbesondere die hochrangigen Militärs, für die Misere verantwortlich und warf ihnen mangelndes Engagement für den Krieg vor. Und er warnte vor einer Revolte der einfachen Russen, die angesichts der ausbleibenden Fortschritte zunehmend frustriert seien. Die einzige Lösung sei, die Kriegsanstrengungen zu verstärken, das Kriegsrecht zu verhängen und „eine neue Mobilisierungswelle“ zu starten. Andernfalls „riskieren wir, Russland zu vergeuden“.

Fassungslos, was an der Spitze des Kremls vor sich geht

Prigoschin hat nicht Unrecht, wenn er das Engagement der russischen Eliten für den Kriegseinsatz in Frage stellt. Ähnlich äußerte sich Anfang Juni Konstantin Zatulin, Duma-Abgeordneter von Putins Partei „Einiges Russland“: „Viele Ziele der Operation haben ihre Bedeutung verloren... es gibt keine Ergebnisse.“ Er beharrt darauf, dass Russland sich neu formieren und weitermachen müsse, aber seine Kommentare spiegeln die Fassungslosigkeit darüber wider, was an der Spitze des Kremls vor sich geht. Praktisch das gesamte Kabinett – einschließlich Verteidigungsminister Sergej Schoigu, einem Lieblingsziel Prigoschins – würde es vorziehen, eine weitere Eskalation zu vermeiden, und das Militär könnte durchaus Strategien zu diesem Zweck entwickeln.

Wird Russland zu einer Art Nordkorea?

Das ist eine pragmatische Entscheidung. Die meisten Mitglieder der herrschenden Klasse Russlands glauben, dass es für Russland schwierig ist, den Krieg zu „gewinnen“. Je mehr es kämpft, desto mehr könnte sich Russland in eine Art Nordkorea verwandeln, ein Land, das bereit ist, alles zu opfern – seinen Lebensstandard, seine Sicherheit, sogar seine Souveränität –, während es zunehmend abhängiger von einem China wird, das seine Ressourcen begehrt – um die Obsessionen seines Führers zu befriedigen.

Doch Prigoschin ist mit diesem Ergebnis zufrieden. Er will, dass die Russen auf materielle Annehmlichkeiten verzichten (auch wenn er mit dem Krieg riesige Summen verdient). Seiner Meinung nach ist die Weigerung der russischen Eliten, sich dem Hurrapatriotismus voll und ganz zu verschreiben, nicht zu rechtfertigen, vor allem angesichts der steigenden Zahl ziviler Opfer durch ukrainische Angriffe auf russisches Territorium. Und er ist damit nicht allein. Die unerbittliche Propaganda mag die einfachen Russen nicht überzeugt haben, sich den Kriegsanstrengungen anzuschließen, aber sie hat ihren Zorn geschürt. Als ich im Januar in Moskau war, konnte man seine Unzufriedenheit mit dem Kreml noch frei äußern – zumindest in relativ privaten gesellschaftlichen Kreisen. Jetzt ist es wie zu Stalins Zeiten: die Feinde sind überall. Freunde und Nachbarn reden übereinander, und die Angestellten in den Cafés belauschen ihre Gäste.

Einige dieser wütenden Russen beginnen, überall Feinde zu sehen, und hätten nichts mehr gegen eine vollständige Militarisierung des politischen und wirtschaftlichen Systems Russlands. Noch sind sie für Putin, aber je länger der Krieg dauert, desto mehr zweifeln sie an seiner Macht. Wird also der Aufstand, den Prigoschin sich vorstellt – und offenbar auch wünscht –, wahrscheinlicher?

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Um diese Frage zu beantworten, muss man Prigoschins Einfluss in Betracht ziehen, der auf der erschreckenden Bilanz der Wagner-Gruppe in Bezug auf Siege und Gräueltaten auf dem Schlachtfeld beruht. Wütende Russen könnten von seiner schonungslosen Rhetorik angezogen werden.

Die Tatsache, dass Prigoschin die Kriegsanstrengungen ohne Konsequenzen kritisieren konnte – sein Gesprächspartner Dolgow wurde wegen des Interviews entlassen –, verstärkt seinen Mythos nur noch. In seiner Geburtsstadt St. Petersburg kann man eine Führung durch das Petersburg Nabokovs oder Puschkins machen und nun auch durch das Petersburg Prigoschins.

Wie zu Stalins Zeiten

Doch Prigoschin nutzt diesen Einfluss nicht, um Putin herauszufordern. Im Gegenteil: Indem er die militärische und politische Elite Russlands angreift, lenkt er vom Mann an der Spitze ab. Und letztlich dürfte Putin mit den meisten Positionen Prigoschins einverstanden sein. (...) Prigoschin steht außerhalb des Systems, aber er dient ihm. In dieser Hinsicht ähnelt er Grigori Rasputin, dem „mystischen Mönch“, der mit der letzten russischen Zarenfamilie, den Romanows, befreundet war und sie vor der Revolution von 1917 stark beeinflusste. In beiden Fällen fehlte es dem Staat an Kohärenz, und der Mann an der Spitze zeigte keine angemessene Führungsstärke, auch wenn er Befehle erteilte. Es entstanden Randgruppen, die das Vakuum füllten, nicht indem sie zu erraten versuchten, was der Chef wollte, um es dann auszuführen, sondern indem sie sich als Kräfte etablierten, mit denen man rechnen musste – und das alles vor dem Hintergrund des Volkszorns.

Putin mag sich mit Prigoschin identifizieren und den Beitrag der Wagner-Gruppe zur Zerstörung der Ukraine schätzen. Aber er muss verstehen, dass Prigoschins Unabhängigkeit und Ehrgeiz die soziale Ruhe, die für das Überleben des Regimes unerlässlich ist, untergraben. Rasputin fand ein grausames Ende, nachdem er zur Zielscheibe einer dekadenten Elite geworden war. Prigoschin könnte ein ähnliches Schicksal erleiden.

Übersetzung: Andreas Hubig. Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe 22.06.2023)

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