175 Jahre „Die Presse“

Overtourism: Ganz schön voll da

JOSEP LAGO/AFP/picturedesk.com 
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Wer hätte das nach den Pandemiejahren gedacht? Die Touristenmassen wälzen sich munter weiter, mehr fast als zuvor. Bei Locals steigt der Überdruss. Soll man denn zu Hause bleiben?

Vielleicht hat man sich die Frage schon einmal gestellt, selbstkritisch, so zwischen einem Trip nach Amsterdam und einem verlängerten Wochenende in Barcelona. Warum wollen alle (oder sagen wir: fast alle) immer dorthin, wo (fast) alle sind? Warum wohl? So schön und so anheimelnd ist das Gedränge auf dem Times Square und auf dem Markusplatz auch wieder nicht.

Offensichtlich sind wir im Urlaub doch nicht so gern allein, jedenfalls nicht vollinhaltlich. Um den Horror vacui zu vertreiben, halten wir uns gern an das Vertraute im Fremden, und sei es bloß die Anwesenheit der eigenen Spezies. Wie lenkend auch modernes, digitales Empfehlungsmarketing auf die scheinbar so Immunen in Sachen Massentourismus wirkt, beantworten Innenstädte, Aussichtsplattformen oder exotische Buchten, die an die Grenzen ihres Besuchermanagements geraten. Und selbst die Geheimplätze jener, die sich nicht für Touristen, sondern für Entdecker, für Eingeweihte halten, werden zu Gemeinplätzen, sobald sie ihre frohe Kunde über ihre Follower verteilt haben.

Es sieht also ganz so aus, als gäb‘s kein richtig Gut und Böse in der Imagehierarchie zwischen Pauschal- und Individualreisenden, Mainstream und Alternative.

Umgekehrt sind die Destinationen, die Anbieter, die Gastgeber ebenso nicht aus der Pflicht zu nehmen, wenn bei ihnen das Gespenst des Übertourismus umgeht. Dieser Nachtmahr ist eben die Kehrseite des uns innewohnenden Dranges, alles, was möglich ist, zu verwerten. Freilich: Der Tourismus gehört zu den allerwichtigsten Industrien weltweit und versorgt riesige, weit verästelte Wertschöpfungsketten. Er bringt Wohlstand, Infrastruktur, Bildung, vielleicht auch Frieden. Das ist gut so. Wer aber glaubt, die von der Pandemie nur kurz unterbrochene, neue Besucherflut an bestimmten Orten durch Betten-stopp, City-Maut oder dynamischen Preise in Schach halten zu können, ist wohl zu optimistisch. Der Tourismus hat schlicht die größere Eigendynamik.

So setzt man an vielen dieser Hotspots auf das kleinere Übel: Die Vertreibung der Einheimischen aus ihrem historischen Habitat ist ein beliebtes Beispiel in europäischen Metropolen. Oder das Weichen von Wald und Wiese, wenn sich mit touristischer Versiegelung mehr verdienen lässt – kennen wir aus den Alpen. Dass etwa gestaffelte Schiffe im Hafen kein Konzept sind, um die Restaurants und Geschäfte an Land zu füllen – sei‘s drum. Und dass mit dem Sightseeing oft der gleichzeitige Auraverlust einer Sehenswürdigkeit einhergeht, ist etwas, was locker hingenommen wird, solang nur genug damit zu lukrieren ist.

Ausweichmanöver

In Orten, in denen sich das Tourist-Bewohner-Verhältnis schon seit Jahren zu Ungunsten verkehrt hat, wächst der Überdruss: Die Einheimischen gehen auf die Straße, sie sprayen unmissverständliche Botschaften an die Wand. Machen klar, dass das eigene Haus kein Museum und der Parkplatz ihrer ist. Der Umgangston wird rauer.

Davon sind wir hier, in Österreich, beim Touristik-Weltmeister, noch etwas entfernt. Durch sehr lange Gastgeberschaft haben wir verinnerlicht, dass man die Hand, die einen füttert, nicht gleich beißt, wenn‘s dort und da voller, ungemütlicher wird. Höchstens ein bisschen lästert, hintenherum, mit Schmäh und mit Handkuss.

Und was, wenn wir austriakischen Locals uns dann selbst auf den Weg in den Urlaub machen – um Sights abzuklappern, um uns in Schlangen anzustellen, um die Straßen zu verparken, um die gleichen Fotos zu machen wie viele zuvor? Ja, dann schließt sich der Kreis. Aber es führt auch ein Weg aus ihm hinaus: In die abgelegenere Provinz. In eine kleinere, weniger bekannte Stadt. Auf den zweithöchsten Gipfel. Und an ruhigere Ufer.

Jubiläum

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