Gastkommentar

Sollte Rammstein verboten werden?

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rammsteinPeter Kufner
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Der Fall des Sängers der deutschen Heavy-Metal-Band Rammstein, der des sexuellen Missbrauchs
beschuldigt wird, wirft erneut die Frage auf: Darf Kunst nach dem privaten Verhalten ihres Schöpfers beurteilt werden?

Der Autor

Project Syndicate

Ian Buruma (*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York. Zahlreiche Publikationen; zuletzt „The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit“.

Seit Ende Mai erschüttert ein #MeToo-Skandal die deutschen Medien. Mehrere Frauen beschuldigen Till Lindemann, den stämmigen, ledergekleideten 60-jährigen Sänger der Heavy-Metal-Band Rammstein, verschiedener Formen des sexuellen Missbrauchs.

Shelby Lynn, eine irische Anhängerin der Band, behauptet, sie sei hinter der Bühne unter Drogen gesetzt und für Sex „präpariert“ worden. Andere haben von unerwünschten sexuellen Begegnungen berichtet, die sie wegen Einschüchterung nicht ablehnen konnten. Es ist die Rede von einer berüchtigten „Reihe null“ in der Nähe der Bühne bei Live-Auftritten, aus der junge Frauen, darunter Lynn, nach der Show für Lindemanns Befriedigung rekrutiert worden sein sollen.

Inwieweit dies der Wahrheit entspricht, wird von der Berliner Staatsanwaltschaft untersucht. Lindemanns Exfrau erklärte, ihr Exmann sei immer nett zu Frauen gewesen. Und Lynn beteuerte später, er habe sie nie angefasst.

Picasso, Allen, Polanski

Wie dem auch sei, der Fall Lindemann wirft eine Frage auf, die in den vergangenen Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten, zunehmend aber auch in Europa heftig diskutiert wird: Darf Kunst nach dem privaten Verhalten ihres Schöpfers beurteilt werden?

Es ist üblich geworden, die Bilder von Pablo Picasso anzuprangern, weil er die Frauen in seinem Leben leiden ließ. Ein bekannter Filmkritiker erklärte, er könne die Filme von Woody Allen nicht mehr so sehen wie früher, nachdem der Regisseur ohne Beweise beschuldigt worden war, seine siebenjährige Adoptivtochter missbraucht zu haben. Die Filme von Roman Polanski werden in den USA nicht mehr vertrieben, weil er 1977 ein 13-jähriges Mädchen unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hat.

Picasso malte eindringliche Porträts einiger der Frauen, die er missbraucht haben soll. In einem Film von Allen geht es um einen Mann mittleren Alters, gespielt von Allen selbst, der sich in ein junges Mädchen verliebt. Obwohl die Begierde nach einer 17-Jährigen kaum etwas mit dem Übergriff auf eine Siebenjährige zu tun hat, wird dies oft als Beweis dafür angeführt, dass die Anschuldigungen gegen Allen wahr sein müssen. Keiner von Polanskis Filmen hat etwas mit dem Verbrechen zu tun, das er im wirklichen Leben begangen hat.

Der Fall von Lindemann und seiner Band ist schwieriger. Provokation und sexuelle Gewalt stehen im Mittelpunkt von Rammsteins Auftritten wie auch von Lindemanns Gedichten.

Das Ausleben dunkler Triebe

Die Deutschen der Nachkriegszeit haben versucht, sich vom Bild des teutonischen Kriegers, des Sadisten in Uniform und der Ekstase des kollektiven Extremismus zu distanzieren. Alles, was an die brutale deutsche Vergangenheit erinnerte, wurde in der friedlichen, zivilisierten, demokratischen Bundesrepublik Deutschland zum Tabu. Die Rock-‘n‘-Roll-Rebellion der Band Rammstein ist ein theatralischer Abriss einiger dieser Tabus nach dem Dritten Reich.

Rammsteins Videos und Inszenierungen zeigen nordische Krieger, KZ-Gräuel, sexuelle Folter und Hardcore-Pornos. Es gibt bewusste Anklänge an die NS-Spektakel von Albert Speer und die Propagandafilme von Leni Riefenstahl. Ein Lied mit dem Titel „Pussy“ preist rohen Sex an. Ein Lied mit dem Titel „Deutschland“ nimmt Bezug auf den Übermenschen. Und Lindemann schrieb ein Gedicht über Sex mit einer schlafenden Frau, die unter Drogen gesetzt wurde.

Man könnte argumentieren, dass das Ausleben dunkler menschlicher Triebe zum künstlerischen Schaffen (oder zu bestimmten Sportarten) gehört. Es ist sicherer, sie auf der Bühne oder im Fußballstadion auszuleben, als in der Politik oder gar im Krieg.

Es gibt ein starkes Element der Ironie in den Shows von Rammstein: das Dritte Reich als ohrenbetäubend laute Opernnummer, weniger um die Dämonen der Vergangenheit zu feiern als um sie auszutreiben. Einiges davon ist geschmacklos (nachgestellte KZ-Szenen in einem Musikvideo), aber das Publikum in aller Welt ist begeistert von Rammsteins theatralischer Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld: „Deutschland – mein Herz in Flammen / Will dich lieben und verdammen!“

Rammstein haben in der Vergangenheit viel Kritik auf sich gezogen, aber der schwefelige Hauch eines Skandals hat ihre Popularität nur noch weiter gesteigert. Den deutschen Teufel spielen, das war ja schließlich der ganze Sinn der Sache.

Keine „Reihe null“ mehr

Sollten die Vorwürfe gegen Till ­Lindemann unsere Sichtweise verändern? Sollte seine Musik wegen seines angeblich schlechten persönlichen Verhaltens verboten werden? Eine aktuelle Umfrage in Deutschland ergab, dass 45 Prozent der Befragten dafür sind, 23 Prozent dagegen. Unterdessen kauften 240.000 Menschen Karten für die Konzerte im Juni in München.

Die Vorwürfe gegen den Sänger hatten bereits Auswirkungen, bevor die Gerichte mit dem Fall befasst wurden. Lindemanns Verlag Kiepenheuer & Witsch hat ihn aus seinem Programm gestrichen, obwohl er vor drei Jahren kein Problem damit hatte, sein bekanntestes Gedicht mit dem Titel „Wenn du schläfst“ zu veröffentlichen. Wütende Demonstranten haben die Fenster des Rammstein-Büros in Berlin eingeworfen. Einige Leute glauben, dass dies zur Auflösung der Band führen wird.

Dass die Band die Frau, die die Mädchen in der „Reihe null“ angeworben haben soll, sofort entlassen hat, macht keinen besonders guten Eindruck, auch wenn die Mitglieder von Rammstein jede Kenntnis von Übergriffen auf After-Show-Partys bestritten haben. Nach den letzten Konzerten gab es jedenfalls keine „Reihe null“ mehr und auch keine Partys.

Verbot von Fantasien?

Es gibt durchaus gute Gründe, das Verhalten der Band zu beklagen, ebenso wie es gute Gründe gibt, deutsche Nachkriegstabus nicht so leichtfertig zu demontieren, und sei es auch nur in einer Heavy-Metal-Burleske.

Vielleicht hätte der Verlag Kiepenheuer & Witsch vor der Veröffentlichung eines Gedichts über eine Vergewaltigungsfantasie doch innehalten sollen. Aber es bleibt die Frage, ob Kunst wegen des Verhaltens ihrer Schöpfer verboten werden sollte. Hier sind Zweifel angebracht.

Wenn sich die Vorwürfe gegen Till Lindemann bewahrheiten, muss er dafür die Strafe zahlen. Aber das ist kein Grund, seine Musik nicht mehr zu hören.

Man kann das Spektakel von Rammstein kritisieren. Ich selbst habe es auch überhaupt nicht eilig, auf ein Rammstein-Konzert zu gehen. Aber vieles, was im Leben nicht erlaubt sein sollte, sollte in der Kunst doch erlaubt sein. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das Verbot von Fantasien der beste Weg ist, um die Gesellschaft vor den Taten gewisser Fantasten zu schützen.

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