Wien, 1863. Druck von Romaine de Hooghe nach Jacobus Peeters.
Zeichen der Zeit

Der gute Krieg gegen die anderen

Der Wirt, ein jovialer Albaner mit weißen Haaren, schlug uns auf die Schultern und meinte, die Österreicher wären seine Freunde, denn wir hätten gemeinsam gegen die Türken gekämpft. Ich lächelte höflich. Ich hatte nicht gekämpft. Ich war nur der mit den Formularen.

An meiner Arbeit als Rechtsberater für Geflüchtete mag ich das Nüchterne. Wie Ärzte Verbände wechseln, Spritzen aufziehen, den Puls messen, so scannen wir Dokumente, blättern in Gesetzbüchern und erfragen Jahreszahlen. Wann wurde Ihre Tochter geboren? Wann haben Sie an der Demonstration teilgenommen? Wann wurde Ihr Vater ermordet? Stets geht es um den einzelnen Menschen, das einzelne Schicksal. Auch wenn die Ursache des Leids oft im Großen zu finden ist, in politischen wie religiösen Ideologien, in nationalen Mythen, so werden diese kaum Teil der Befundaufnahme. In der Funktionalität eines Beratungszimmers, zwischen weißen Wänden und Buchenholzstühlen, gibt es kein „wir“ und keine „anderen“. Der heilige Sieg einer Religion über die nächste, die historische Sendung irgendeines Volkes, das ewige Recht auf dieses oder jenes Stück Land, all die Narrative, die letzten Endes zu den Raketeneinschlägen oder dem Niedersausen der Polizeiknüppel geführt haben, all das hat hier keinen Platz. Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen? Es geht nur noch darum, die Scherben zusammenzukehren.

Jedes Land hat seine Mythen. Sie erzählen von historischen Ereignissen und deren Deutung, von der Erinnerung der Menschen, ihren Ängsten und Hoffnungen. Durch die Kontextualisierung dessen, was „wir“ erlebt haben, wird gleichzeitig eine kollektive Identität heraufbeschworen. Dabei mag der Eindruck entstehen, die blutigen Geschichten hätten im Laufe der Epochen ihre Giftzähne verloren. Als ginge es nicht mehr darum, was „uns“ von „den anderen“ angetan wurde, als ginge es nicht mehr um die Vernichtung des anderen, sondern nur noch um Folklore, um bunte Bilder, um harmlose Volksfeste, bei denen höchstens noch Strohpuppen verbrannt werden.

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