Seyß-Inquart: Am Ende blieb nur noch der Strick

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Ein katholischer Wiener Anwalt will 1938 Brückenbauer zur NSDAP sein. Der einstige Freund von Dollfuß wird zum Trojanischen Pferd für Schuschnigg.

Es war der 30. September 1946 in Nürnberg. Nach zehn Monaten endete der größte Strafprozess der Rechtsgeschichte. 403 öffentliche Sitzungen hatte der Gerichtshof, der von den vier alliierten Siegermächten über Hitler-Deutschland beschickt war, abgehalten. Die Anklage legte 1630 und die Verteidigung 2700 Dokumente im Beweisverfahren vor: Das Urteil über die 24 Hauptkriegsverbrecher stand bevor.

Schon das äußere Bild der Umgebung des Gerichts entsprach der Besonderheit des Ereignisses, schreibt Gustav Steinbauer, der österreichische Verteidiger des Landsmannes Arthur Seyß-Inquart: Sämtliche Zufahrtsstraßen waren abgesperrt und verstärkte Polizei patroullierte in den Straßen. Drohend richteten schwere Panzer ihre Rohre gegen den Himmel. Schon eine halbe Stunde vor Beginn waren die Zuschauer- und Pressegalerien bis auf den letzten Platz gefüllt. 550 Personen drängten sich in dem Schwurgerichtssaal. Lautsprecher auf den Gängen und in den Nebensälen waren nötig. Hunderte von Lampen erfüllten den Saal mit blendender Helligkeit.

Einzeln wurden die Angeklagten über einen Aufzug in den Saal gebracht. Zwölfmal verkündete Lordrichter Sir Geoffrey Lawrence den Spruch des Gerichts: „Nach den Punkten der Anklage, deren Sie für schuldig befunden worden sind, verurteilt Sie das Internationale Militärgericht zum Tode durch Erhängen.“ Auch Seyß-Inquart. Mit einer leichten österreichischen Verbeugung nahm er das Todesurteil zur Kenntnis. Am 16. Oktober wurde es vollzogen.

Wer war dieser Mann, dessen Augen durch dicke spiegelnde Brillengläser dem Betrachter meist verborgen blieben?

Zunächst einmal ein Südmährer, geboren 1892, dessen gutbürgerliche Familie schon 1907 nach Wien übersiedelte. Ein Jurist, ein Rechtsanwalt, Weltkriegsteilnehmer, katholisch, national, konservativ. Kein typischer Nazi. Ein Grübler, ein Zauderer. Zunächst im steirischen Heimatschutz, dann in der katholisch-nationalen „Deutschen Gemeinschaft“ wird er ein Freund von Engelbert Dollfuß. Nach dessen Ermordung sieht er sich als Brückenbauer zwischen den Nazis und dem christlich-sozialen Regime.

Auch Kanzler Kurt v. Schuschnigg glaubt an Seyß-Inquarts Loyalität. Selbst dann noch, als er am 16. Februar 1938 auf Hitlers Druck den Mann zum Innenminister machen muss. Somit ist Seyß auf die Bundesverfassung aus der Ära Dollfuß vereidigt.

Und so spricht er auch – öffentlich: „Der österreichische Nationalsozialist hat sich vor Augen zu halten, dass die Hoheitszeichen des Reiches und seine Hymnen nicht zu Demonstrationen verwendet und daher gerade im Sinne eines Nationalsozialisten nicht missbraucht werden dürfen. Ebenso darf der nationalsozialistische Gruß da nicht verwendet werden, wenn er nicht als Ausdruck der eigenen Anschauung, sondern als Herausforderung für Andersdenkende aufgefasst werden kann . . .“

„Telefonfräulein“ Seyß

Doch da ist Seyß längst nur noch eine Marionette an den Fäden, die in Berlin gezogen werden. In den Märztagen des Umsturzes ist er nicht mehr als ein hoch gestelltes Telefonfräulein, wie er Vertrauten sagt. Für zwei Tage ist er Regierungschef, dann wischt der „Führer“ all die Pläne von einem nationalsozialistischen österreichischen Bundeskanzler vom Tisch.

Als der Anschluss vollzogen ist, will Seyß in seine Anwaltskanzlei zurück. Aber Hitler ernennt ihn zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich – ein Titel ohne Mittel.

Die „zweite Karriere“ sollte ihn schließlich an den Galgen bringen. Seyß wird stellvertretender Generalgouverneur in den besetzten polnischen Gebieten. Und dadurch mitschuldig an Ausplünderung, Deportation und Vernichtung der polnischen Elite.

Sklaverei, Deportation

1940 ist aus dem einst so schüchternen katholischen Advokaten ein kompletter NS-Machthaber geworden. Er wird „Reichskommissar“ in den besetzten Niederlanden. Bis Kriegsende werden nun auf rücksichtslose Weise Arbeitskräfte zwangsrekrutiert, um die holländische Wirtschaft ausbeuten, Juden werden in die KZ geschickt, Mitglieder des niederländischen Widerstands verfolgt. 1941 – da trägt er schon die Uniform eines SS-Generals („Obergruppenführer“), ordnet er Geiselerschießungen an.

1944 eskaliert die Situation in Holland. Seyß gehorcht einem Führerbefehl, Widerstandskämpfer unmittelbar der Gestapo zur Exekution zu übergeben. Mehr noch: Der einst so distanzierte und kühle Intellektuelle gibt nun detaillierte Exekutionsbefehle und legt die Zahl der Opfer selbst vorher fest.

Am 1. Mai '45 sollte er laut Hitlers Testament Außenminister werden, doch da sind schon kanadische Truppen in Holland, Seyß wird der militärischen Justiz übergeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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