Paul Kranzler: "Die Jugend vom Land gibt es gar nicht mehr"

Die große Kluft, die es früher zwischen Stadt und Land gegeben hat, hat sich freilich längst geschlossen.

Seit 2004 arbeitet der oberösterreichische Fotograf Paul Kranzler an einer Porträtserie mit dem Titel »Land Jugend«. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche und jugendkulturelle Dresscodes im ländlichen Raum. Die große Kluft, die es früher zwischen Stadt und Land gegeben hat, hat sich freilich längst geschlossen.

2004 begannen Sie während eines Stipendiums in Schlierbach, Oberösterreich, Jugendliche zu fotografieren. Seitdem hat sich Ihr Radius aber vergrößert.

Paul Kranzler: Derzeit studiere ich in Leipzig, habe zuletzt also in Sachsen fotografiert, zuvor auch in Bayern, Brandenburg, in der Lüneburger Heide und der Schwarzwälder Gegend.



Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist ja manchmal schwer greifbar – eine kleine Stadt, die Hauptstadt eines großen Bezirks ist, kann „urbaner“ sein als eine größere Stadt in der Nähe einer Metropole.


Das stimmt, und das ist besonders in Deutschland auffällig, zum Beispiel im Ruhrgebiet, wo es viele kleine Städte gibt, die keinen eigenen Charakter entwickelt haben. Städte, die so groß sind wie Salzburg oder Linz, haben kein einziges Museum oder Theater und fühlen sich wegen dieser Bedeutungslosigkeit wieder ländlich an.



Den Dresscodes der urbanen Jugendkultur auf dem Land zu entsprechen war bis zum Auftauchen globaler Diskonter wie H & M, eine große Herausforderung. Kirchenflohmärkte waren wichtig, Einfallsreichtum vonnöten – das können sich Teenager heute wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen . . . ?

H & M war für uns Mitte der Neunziger im Einzugsgebiet von Linz wirklich wie ein Befreiungsschlag. Wichtig war damals auch noch MTV, von dem wir überhaupt erst die Vorlagen für unsere Outfits bezogen haben. Und heute bekommen die Jugendlichen natürlich durch das Internet alles mit und können dort auch gleich einkaufen.



Beobachten Sie auch in Ihrer Dokumentation von Jugendkultur auf dem Land eine Tendenz der Rückkehr zu Tracht und Tradition?

Ich glaube, das findet erst später statt, vielleicht von zwanzig aufwärts. Jugendliche, die nicht zum Trachtenverein gehören, ziehen sich nicht so an. Früher nicht – und heute auch nicht.

Das Oktoberfest hat sich ja mittlerweile zu einem globalen Modethema ausgewachsen, das sich auch im Angebot von Textilketten niederschlägt. Ob wohl über diesen Umweg Dirndln und Lederhosen wieder Eingang in die Jugendkultur finden?

Wie gesagt: In der Altersgruppe, die ich fotografiere, eher nicht. Da gibt es die einen, die sowieso Tracht tragen, weil sie beim Trachtenverein sind oder bei der Blasmusikkapelle. Und eben die anderen. Ich finde interessant, wenn es zu Vermischungen kommt, wie diesem Jugendlichen, den ich vor einem Bauernhof fotografiert habe und der zu seiner Hose von der Freiwilligen Feuerwehr ein T-Shirt mit den Namen von Superstars der Popkultur trägt. Bestimmte Varianten von Jugendkultur halten sich auf dem Land vielleicht sogar länger, würde ich sagen. Es gibt definitiv noch ein paar Spielarten von Subkulturen, die man in der Stadt in der Form längst nicht mehr sieht.



Weil gerade die jugendkulturelle Kodierung auf dem Land besonders wichtig ist?

Wer auf dem Land lebt, lebt einfach zumeist in einem Kaff – und die Jugendlichen wissen auch, dass sie das tun. Auf der einen Seite gibt es die Vereinsmeierei, also eben Fußballverein, Freiwillige Feuerwehr, Blasmusikkapelle, vielleicht noch die Pfadfinder. Und wenn du da nirgends dazugehörst, dann bist du entweder der totale Außenseiter. Oder du positionierst dich ganz bewusst außerhalb, als Skater zum Beispiel. Oder als Goth, da sind mir letztens in Sachsen auf einmal ein paar über den Weg gelaufen.


Wo finden Sie die Jugendlichen, die Sie fotografieren? Stellen Sie sich auf den Hauptplatz und warten, ob jemand vorbeikommt?

Zum Beispiel. Manchmal, wenn ich in einer Gegend unterwegs bin, nehme ich mir einen halben Tag Zeit und tingle durch Ortschaften. Oder ich mache mir bewusst etwas aus, zum Beispiel mit der Freiwilligen Feuerwehr, sodass alle versammelt sind, wenn ich komme. Außerdem treffen sich Jugendliche auf dem Land an ganz bestimmten Orten: an der Bushaltestelle, beim Bahnhof, wenn es einen gibt, im Kaffeehaus.



Zieht es diese Jugendlichen in die Stadt, thematisieren sie irgendwie ihr Jugend-auf-dem-Land-Dasein?

In Österreich wäre mir das nicht aufgefallen, in sehr strukturschwachen Gegenden in Brandenburg oder Sachsen ist das etwas anderes – da reden die Jugendlichen sehr wohl davon, dass sie in die Stadt wollen, also konkret nach Berlin. Aber in den Orten, in denen sie leben, gibt es wirklich nichts, da stehen die Zentren zur Hälfte leer. In Süddeutschland oder Österreich ist das anders, da wäre mir kein Komplex gegenüber der Großstadtjugend aufgefallen – weil diese Jugendlichen ohnehin oft Mopeds oder Autos haben und überall hinfahren können.



War womöglich die Sehnsucht nach der Stadt früher ein größeres Thema für die Jugendlichen auf dem Land?


Auf jeden Fall. Die Jugend vom Land in dem Sinn, wie es sie früher gegeben hat, findet man heute gar nicht mehr.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.