Alles ist ausgewandert

Mit narrativem Atem: Werner Frizens Musil-Bildbiografie. Geburt und Grab, dazwischen nichts als Arbeit – scheint das Schicksal des wahren Philosophen zu sein.

Geburt und Grab, dazwischen nichts als Arbeit – scheint das Schicksal des wahren Philosophen zu sein. Auch der österreichische Dichter-Philosoph Dipl. Ing. Dr. phil. Robert Edler von Musil hat auf einen flüchtigen Blick keine an Abenteuern reiche Biografie“, so der 1956 geborene Literaturwissenschaftler Werner Frizen zu Beginn seiner Biografie. Präzise und sparsam geht der Autor mit seinem Material um, sowohl bei der Studie über Musils prägende Erlebnisse als Kind im Schoß der Familie als auch bei der Betrachtung seiner „lebensbestimmenden schriftstellerischen Arbeit, insbesondere am deutschsprachigen Jahrhundertroman ,Der Mann ohne Eigenschaften‘“.

Wir erfahren von der Zeit des jungen Musil in der Militäroberrealschule, in der er seine ersten homosexuellen Erfahrungen mit seinem Mitschüler Franz Fabini sammelt, von seiner Zeit als Offizier im kaiserlichen Dienst und den Jahren, als er sich für die Karriere eines Dichters entscheidet, sowie von seinem Genfer Exil. In allen Phasen seines Lebens und Schaffens erleben wir einen ungewöhnlichen Dichter, der in kein vorgefertigtes Bild passt. Selbst Freud, den Musil bissig einen„Pseudodichter“ nannte, hätte gern versucht, ihn als „analen Charakter“ zu etikettieren, „der in Wirklichkeit das Gegenteil dessen verkörpert, was seine anrüchige Beziehung besagt“. Bei keinem Schriftsteller sind Leben und Fiktion so verschmolzen wie bei Musil. „Er erlebt nicht seine Abenteuer in der Wirklichkeit, sondern erdichtet immer neu entworfene Möglichkeiten am Schreibtisch“, formuliert Werner Frizen.

„Mein Gatte ist in Utopia“

Aber war das Leben vom „genialen“ Musil nicht selbst Utopie? Sonst wäre es vielleicht schwer zu verstehen, dass er sich im Jahre 1936 in seinem wienerischen Bücherbollwerk verbarrikadierte und wie einösterreichischer Staatsdiener mit Anzug und Schlips an seinem Schreibtisch saß, während „draußen vor der Tür“ die Nazi-Banden den Geist mit ihren Stiefeln traten. Seine Frau, Martha, hat die Unbehaustheit ihres Ehemanns 1941 im Schweizer Exil auf den Punkt gebracht: „Alles ist ausgewandert. Es wird allmählich unheimlich in Genf. Meine Tochter ist in Philadelphia, mein Sohn in Rom und mein genialer Gatte in Utopia.“

Alle „Musilschen Möglichkeitswelten“, die Frizen in seinem Buch mit brillant narrativem Atem untersucht, dienen nur einem Ziel: dem Dienst an seiner dichterischen Entwicklung. Die Frage ist also nicht: Was wäre, wenn die wissenschaftliche Laufbahn von Musil nicht in den Wind geschlagen worden wäre? Sondern:Was wäre die literarische Welt oder „Utopia“ des Dichters Musil ohne die Möglichkeitswelten seines Lebens?

Wenn sein Onkel, der Diplomat Alois Musil, sich selbst für den größten Orientkenner der Welt gehalten hat, der sogar über Laurence von Arabien steht, ist es nicht verwunderlich, dass Musil, der in dem Onkel ein Vorbild gesehen hat, sich für den zweitgrößten deutschsprachigen Dichter gehalten hat. Nur Goethe sei größer als er. Nicht etwa Thomas Mann.

Wunderbar gelungen ist, wie Werner Frizen dem „Mann ohne Eigenschaften“ neue Eigenschaften verleiht und ihn aus seinem Utopia zu uns bringt! ■



Werner Frizen
Robert Musil

Hrsg. von Dieter Stolz. 88S., 39 Abb., geb., €20,50 (Deutscher Kunstverlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2013)

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