Die Chancen, dass sich Ankara und die Arbeiterpartei Kurdistans auf einen Friedensprozess einigen, standen noch nie so gut.
Die Terroranschläge der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und harte Gegenmaßnahmen der türkischen Armee haben 40.000 Todesopfer gefordert, aber auch gezeigt, dass das Problem mit militärischen Mitteln nicht zu lösen ist.
Nun verhandelt die Regierung in Ankara mit dem zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führer, Abdullah Öcalan. Als erstes Ergebnis wurden von der PKK eine Waffenruhe und der Abzug ihrer geschätzten 1500 Kämpfer aus der Türkei angekündigt. Am Ende des Prozesses werden die Auflösung der PKK, eine Amnestie für die Mehrheit ihrer Mitglieder und die Umwandlung von Öcalans Einzelhaft in Hausarrest erwartet.
Ankaras zentralistischer Geist
Die Ausarbeitung einer neuen türkischen Verfassung bietet die beste Möglichkeit, die Anliegen der Kurden zu berücksichtigen: Anerkennung der kurdischen Identität, freier Sprachgebrauch, Pflege der kurdischen Kultur und regionale Autonomie. Der letzte Punkt wird die größten Schwierigkeiten bereiten, widerspricht eine solche Autonomie doch dem zentralistischen Geist der türkischen Verwaltung. Dennoch, ohne irgendeine Form der Dezentralisierung wird es keine Einigung geben.
Zugeständnisse an die Kurden werden von der nationalistischen Oppositionspartei MHP abgelehnt, während sich die Republikanische Volkspartei zögerlich verhält. Trotzdem sind die Erfolgsaussichten der Kurden intakt.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan will 2014 für das Präsidentenamt kandidieren und hat beste Chancen zu gewinnen. Allerdings will er sich mit der protokollarischen Rolle der Präsidentschaft nicht begnügen und strebt die Einführung eines Präsidialsystems durch die neue Verfassung an. Dieses Vorhaben wird von den Oppositionsparteien kategorisch abgelehnt. Da der Regierungspartei AKP im Parlament die für ein Referendum über die Verfassung erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit fehlt, benötigt Erdoğan die Stimmen der kurdischen Abgeordneten. Diese wird er aber nur dann erhalten, wenn er den kurdischen Wünschen Rechnung trägt.
Geostrategische Faktoren
Auch geostrategische Faktoren sprechen für einen kurdischen Ausgleich. In den vergangenen Jahren hat die Türkei enge Beziehungen zur Autonomen Region Kurdistan im Irak entwickelt. In der Hauptstadt Erbil wurde ein Konsulat eröffnet, über 1000 türkische Wirtschaftsunternehmen sind in der Region tätig. Auch die PKK-Kämpfer in den Kandil-Bergen bekommen die türkeifreundliche Stimmung zu spüren.
Für die Autonome Region bietet Ankara Rückendeckung gegen die zentralistischen Bestrebungen Bagdads. Die Türkei ist der wichtigste Handelspartner und ermöglicht die eigenständige Ausfuhr von Erdöl und Erdgas. Es wurde der Bau von drei neuen Pipelines vereinbart, die erste soll schon 2014 in Betrieb gehen. In den Kurdengebieten Syriens arbeiten beide Seiten ebenfalls zusammen, um dem vom irakischen Kurdenführer, Massoud Barzani, geförderten Kurdischen Nationalrat gegenüber der mit der PKK verbundenen PYD die Oberhand zu verschaffen.
Gemeinsame Interessenlage
Der Friedensprozess in der Türkei hat sicher noch viele Hürden zu überwinden, er kann auch jederzeit zum Entgleisen gebracht werden. Sollte er aber erfolgreich sein, wäre dies ein großer Gewinn für das Land und für die gesamte Region. Unter den Hauptakteuren besteht derzeit jedenfalls eine gemeinsame Interessenlage – und dies ist Grund zum Optimismus.
Dr. Albert Rohan (geboren 1936 in Melk) war Generalsekretär des Außenamtes. 2004 war er Berichterstatter der Internationalen Türkei-Kommission der EU.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2013)