Umstrittene Urteile aus Straßburg, die hehre Ideale von einst untergraben

Dass es keinen europäischen Souverän, geschweige denn einen europäischen Staat gibt, aber sehr wohl einen Europäischen Gerichtshof, widerspricht der Staatslehre von Thomas Hobbes.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilte diese Woche die Schweiz. Das Land, urteilte der Gerichtshof, habe die Europäische Konvention für Menschenrechte verletzt. Denn die Schweizer Behörden haben einer 82-jährigen Frau, die an keiner Krankheit leidet, sondern sich wegen zunehmender Schwäche ihr Leben nehmen wollte, ein tödliches Medikament vorenthalten.

Ob es sich bei diesem Spruch des Gerichtshofs um ein Fehlurteil handelt oder nicht, soll hier nicht erörtert werden. Vielmehr sei die viel weiter gehende Frage gestellt, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, dass sich der Gerichtshof so eingehend mit den Entscheidungen der Behörden eines Staates auseinandersetzt. Notabene mit den Behörden der Schweiz, wo die akribische Beachtung der Menschenrechte wohl eher gegeben sein dürfte als in Aserbaidschan oder in Georgien, die sich der Jurisdiktion des Gerichtshofs verpflichtet haben und daher auch je einen seiner 47Richter stellen.

Ursprünglich war der Gerichtshof in Abscheu vor der mörderischen Hitler-Diktatur gegründet worden – in der Absicht, der Wiederkunft solcher schändlichen Regime ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben: Er solle Staaten wegen manifester Verletzungen der elementaren Menschenrechte verurteilen dürfen.

Doch mit der Zeit hat der Gerichtshof, so der ehemalige Schweizer Bundesrichter Martin Schubarth, „durch eine ,dynamische‘ Rechtsprechung der Sache nach eine europäische Gesetzgebungskompetenz usurpiert, mit der die demokratisch gewählten nationalen Gesetzgeber in ihren Kompetenzen beschnitten werden“. In der Menschenrechtskonvention glaubt der Gerichtshof, so Schubarth weiter, „eine europäische Leitkultur auffinden zu können, die er ohne Rücksicht auf nationale Besonderheiten von Lissabon bis Wladiwostok allen Ländern aufzuzwingen versucht. Ein Beispiel bildet das Namensrecht.“ Mit diesem letzten Satz bezieht sich Schubarth auf ein früheres Urteil gegen die Schweiz, wonach deren Namensrecht konventionswidrig sei.

Das ist ein ziemlich langer Weg von den hehren Zielen, Verbrecherstaaten zu verhindern, bis hin zu Fällen, die im Vergleich dazu Bagatellen sind. Und es wird – trotz all ihrer edlen Ideale – die innere Widersprüchlichkeit einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit vor Augen geführt.

Obwohl viele die luzide Staatstheorie von Thomas Hobbes für veraltet erachten, dürfte sie doch die einzige konsistente Lehre über den Staat darstellen. Sein zentraler Satz betrifft die Macht des Staates: „Non est potestas super terram quae comparetur ei“, schrieb er: „Keine Macht auf Erden ist ihr vergleichbar.“

Die Bürgerin oder der Bürger will, dass der Staat mit dem Erlassen, Vollziehen und Überprüfen der Gesetze diese unumschränkte Macht ausübt. Denn nur damit vermag er für Freiheit wie auch für Sicherheit zu sorgen, vor allem für den Schutz der Person und des Eigentums. Das Adjektiv im Wort „Oberster Gerichtshof“ will wirklich als Superlativ verstanden werden.

Nur wenn es einen europäischen Staat und einen europäischen Souverän gäbe, müsste nach Hobbes auch ein Bürger Schwedens den Spruch eines Richters aus Zypern anerkennen. Doch diese Voraussetzung ist weit und breit nicht in Sicht. Nur umstrittene Urteile, erlassen von vom eigenen Staat nicht befugten Richtern.


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>> Replik von Peter Hilpold

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2013)

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