In den Fängen der Mutter

Onanie und Esoterik: Das sind die Hobbys des 22-jährigen Helden in David Vanns Roman „Dreck“. Es sind seine Ausflüchte aus der familiären Hölle, in der ihn seine Mutter zu halten versucht. Bis sie ihn beim Sex mit seiner Cousine erwischt. Ein Familiendrama.

David Vann, 1966 auf Adak Island in Alaska auf der dortigen US-Militärbasis geboren, ist in Ketchikan/Alaska aufgewachsen und lebt heute in Kalifornien. Zurzeit ist er Professor an der University of San Francisco und schreibt für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften.

Im deutschen Sprachraum fand seine 2010 als Roman veröffentlichte Langerzählung „Im Schatten des Vaters“ aus dem Band „Legend of a Suicide“ große Beachtung. Der im Original 2008 „Sukkwan Island“ betitelte Roman bietet einen guten Einstieg in die Erzählwelt dieses Schriftstellers: An entlegenen Schauplätzen erfolgt höchste Zuspitzung existenzieller Grenzsituationen. Nicht zu Unrecht wurde diese Arbeit von der deutschen Kritik als „Drama von antiken Ausmaßen“ bezeichnet. Ein Vater will in einer einsamen Hütte mit Plumpsklo im südlichen Alaska mit seinem 13-jährigen Sohn ein Jahr lang leben – Schulunterricht inklusive. Das Experiment entwickelt sich aber zu einem schwer erträglichen Lehrbeispiel menschlicher Überforderung.

2012 folgte auf Deutsch „Die Unermesslichkeit“, im Original wiederum ein Insel-Titel: „Caribou Island“, und erneut als Schauplatz eine primitive Holzhütte auf einer kleinen Insel in Alaska, umgeben von dramatisch-urwüchsiger Natur. Das Eherettungsexperiment treibt ebenfalls unausweichlich auf ein Zerfleischungsdrama zu.

Und nun der neue Roman von David Vann: 2012 als „Dirt“ im Original erschienen, wurde diesmal der ebenso lapidare wie treffende Titel „Dreck“ übernommen. Die Geschichte wird nur ein Mal indirekt zeitlich als Mitte der 1980er-Jahre erkennbar, nämlich über die Erwähnung, dass der Buick Century 1973 „jetzt zwölf Jahre alt“ ist. Der 22-jährige Galen lebt mit seiner Mutter auf einer alten Walnussplantage in der Hitze Kaliforniens. Er hat seinen Vater nie kennengelernt, und seine Mutter unternimmt alles, um ihren Sohn bei sich zu behalten und mit ihm das Idyll jenes Familienlebens zu simulieren, das sie als Kind selbst offenbar vermisst hat, auch wenn sie ihre Kindheit in der Rückschau verklärt.

Die beiden leben von einem alten Familienvermögen, über dessen Ausmaße die Mutter dem Sohn ein falsches Bild vermittelt, damit sie ihm wegen angeblichen Geldmangels den ersehnten College-Besuch verwehren kann, der natürlich einem Ausbruch aus diesem Muttergefängnis gleichgekommen wäre. Galens Verhalten mutet zu Beginn des Romans wie das eines trotzig pubertierenden 14-Jährigen an – und er wird von seiner Mutter ja auch wie ein Kind behandelt. Ihm ist alles verhasst: das alte Haus, die alten Bäume, die grässliche Hitze, all das, was seine Mutter schwärmen lässt: „Wir wohnen an diesem wunderschönen Ort, ganz für uns.“ Für ihn hingegen ist selbst die Luft „nicht atembar“. Er ist sich dessen bewusst, dass ihn seine Mutter „zu einer Art Ehemann“ gemacht hat, wie sie nie einen hatte.

Zwei Schlupflöcher aus diesem Gefängnis hat Galen für sich entdeckt: die Esoterik und die Onanie. Da er beides durchaus auch miteinander in Einklang zu bringen versucht, ist für bizarre Komik gesorgt. Neben den die Onanie befördernden einschlägigen Druckwerken wie „Hustler“, liest er „zum hundertsten Mal ,Siddhartha‘“, Castaneda oder „Die Möwe Jonathan“. Auf seinem alten Kassettenrecorder – angeblich fehlt für einen Walkman das Geld – hört er immer wieder Musik von Kitaro, dem japanischen Musikgott der New-Age-Szene. Der Titel „Silk Road“, als Entspannungsmusik beliebt, liefert ihm den Soundtrack zum Abdriften aus seiner unerquicklichen, von Ess-Brech-Sucht-Attacken begleiteten Lage in den Fängen der Mutter.

Samsara wird ihm zum immer wieder aufgerufenen Zauberwort. Die aus dem Sanskrit stammende Bezeichnung für den leidvollen Kreislauf von Werden und Vergehen, aus dem nur durch Loslassen von allen Bindungen, Begierden und Wunschvorstellungen ausgebrochen werden kann, wird angesichts der immer wüster und brutaler werdenden Geschehnisse und ihres grausamen Höhepunkts zu einem sarkastischen Kommentar.

Ohne Abschweifungen bleibt David Vann dicht bei seiner Handvoll Figuren und ihrem innerfamiliären Drama: Galen und seine Mutter besuchen täglich die vom Enkel geliebte Großmutter im Heim. Die vielleicht in den Gedächtnisverlust Geflohene – ihr Mann, der für ihren Enkel die Gewalt in diese Familie gesät hat, soll sie misshandelt haben – bildet die Quelle des Vermögens, von dem auch Galens von ihrer Mutter ungeliebte, bös-witzige Tante Helen und deren 17-jährige Tochter Jennifer partizipieren. Die Benachteiligten wollen mehr Geld. David Vann schreibt großartige Dialoge: Mit ihnen erhellen Helens und Jennifers Spott und Hohn blitzartig die düstere Szenerie.

Zum einzigen Schauplatzwechsel des Buches kommt es, als die fünf zur familieneigenen Hütte im Wald fahren, wo die Spannungen unter den Familienmitgliedern stetig zunehmen. Gleichzeitig erfüllt die abgebrühte Jennifer ihrem älteren, noch jungfräulichen Cousin, der sie mit seinen Seltsamkeiten als „Freak“ amüsiert, seine größten Sehnsüchte, indem sie ihn für die Umsetzung ihrer sexuellen Fantasien benutzt. Als es zum Geschlechtsverkehr kommt, wird Galens Mutter Zeugin.

Zurück auf der Farm, entbrennt ein an Grausamkeit schwer überbietbarer Machtkampf auf Leben und Tod zwischen Mutter und Sohn, der in den Augen der verzweifelten Glucke wohl den ersten Schritt in die Selbstständigkeit getan hat. Wenn sie ihn schon nicht halten kann, will sie ihn vom Staat wegsperren lassen: Sie werde ihn anzeigen, Jennifer ist minderjährig, und überdies habe er sie vergewaltigt. Er werde im Knast oder im Irrenhaus landen.

Nachdem sich die Mutter in einenSchuppen geflüchtet hat, sorgt ihr Sohn dafür, dass sie nicht mehr herauskommt. Anfangs glaubt sie noch alle Trümpfe brutaler Drohung in der Hand zu haben. Aber Galen vernagelt den Schuppen, schüttet Erde auf und bringt ihr kein Wasser, während er das lebensnotwendige Nass genießt. Schließlich bietet die Mutter ihr geheimes Scheckbuch über das Millionenvermögen an. Sie stellt die Schecks zu Galens Gunsten aus und schreibt eine Liebeserklärung an ihn auf die Rückseite. Er nimmt es, bleibt aber hart. Der nach Transzendenz Lechzende wälzt sich im Dreck und versucht sein mörderisches Tun als meditative Handlungen zu erleben. Der grausame Schluss sei hier nicht verraten.

David Vann erweist sich in „Dreck“ als Meister einer Art Druckkochtopf-Erzählweise: Er wirft zwei Schauplätze zusammen mit fünf inkompatiblen Figuren in den Topf, macht den Deckel zu, erhöht gnadenlos die Temperatur und erbringt den Nachweis für die Richtigkeit von Doderers Urteil: Wer sich in die Familie begibt, kommt darin um. ■

David Vann

Dreck

Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. 296 S., geb., € 20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2013)

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