1965: Büchner und die Entdeckung des Geringen

Literatur. Wendelin Schmidt-Dengler analysiert 1965 die Version von Georg Büchners „Woyzeck“ in der „Presse“.

[3. Juli 1965] Wie kein anderes Drama aus dem 19. Jahrhundert gilt heute Georg Büchners „Woyzeck“ als Inbegriff der Modernität. Doch es dauerte geraume Zeit, bis die Literaturkritiker, die Regisseure und Dramaturgen und zuletzt das Publikum den Rang dieses Stückes erkannten und darin mehr sehen wollten und auch konnten als die fragmentarische Dramatisierung eines Kriminalfalles, die dazu angetan sein sollte, das Mitleid mit den unteren Ständen zu wecken: Das Schicksal des Füsiliers Franz Woyzeck schien der Dimension des Tragischen zu ermangeln, wie denn auch seiner Geliebten Marie – der Mutter seines Kindes, die schließlich das Opfer seiner Eifersucht wird – die Dignität einer tragischen Heroine kaum zugesprochen werden konnte. Aus der Geschichte der Edition können wichtige Indizien abgelesen werden, die nicht nur sozial- oder literaturgeschichtliche Aspekte, sondern auch den Wandel des Menschenbildes betreffen.
Die Ausgaben der „Neuen Freien Presse“ vom 9. und 23. November das Jahres 1875 markieren eine entscheidende Etappe in dieser Entwicklung: Da wurde zum ersten Mal der Text dieses Fragments in Auswahl einer größeren Öffentlichkeit im Druck vorgestellt. Dass es zu dieser so bedeutsamen Veröffentlichung in einem Organ der Donaumonarchie kam, ist das Verdienst eines Mannes, dessen Leistung als Schriftsteller und Feuilletonist bis in unsere Tage hinein Beachtung und Achtung verdient: Karl Emil Franzos (1848–1904) hat bereits, nach eigener Aussage, im Gymnasium in Czernowitz 1867 Kunde vom Werk Georg Büchners erhalten und dessen „Dantons Tod“ in der 1850 erschienenen und von Ludwig Büchner, dem Bruder des Dichters, besorgten Ausgabe gelesen. Die Edition von 1850 hatte zwar einiges Aufsehen erregt, doch war die Wirkung kaum eine nachhaltige.

„Absolut keine Silbe lesbar“


Der unmittelbare Anlass für eine neuerliche Auseinandersetzung mit Büchner ergab sich durch die Enthüllung einer Büchner-Büste in Zürich am 4. Juli 1875. Franzos veröffentlichte an diesem Tag ein Gedenkblatt für den so früh Verstorbenen, und dies war der Beginn einer Beschäftigung, die Franzos fast sein ganzes weiteres Leben begleitete: „Die Skizze erwarb mir, sicherlich nicht durch das, was ich darin geleistet, sondern wohl durch ihre ehrliche Begeisterung für den genialen Dramatiker, das gütige Vertrauen der Familie. Herr Dr. Ludwig Büchner übersendete mir den gesamten Nachlass, soweit er in Händen der Familie, zur Sichtung und Veröffentlichung.“
Ein Text fasziniert ihn vor allem: das Fragment des Trauerspiels namens „Woyzeck“, oder, wie Franzos (unrichtig) las, „Wozzeck“ – die Namensform, die lange und vor allem auch für Alban Bergs Libretto (Uraufführung 1925) maßgeblich blieb. Der Text hätte schon früher veröffentlicht werden sollen, doch der Zustand des Manuskripts hat Ludwig Büchner und einen Mitarbeiter abgeschreckt. Franzos hat seine Schwierigkeiten mit dem Konvolut im Oktober 1875, also knapp vor Veröffentlichung, sehr anschaulich geschildert: „Ich hatte Anfangs auch nicht die leiseste Hoffnung, es entziffern zu können. Vor mir lagen vier Bogen dunkelgrauen, mürbe gewordenen Papiers, kreuz und quer mit langen Linien sehr feiner, sehr blasser gelblicher Strichelchen beschrieben. Da war absolut keine Silbe lesbar. Ratlos wendete ich die Blätter hin und her. Da führte mir der Zufall das chemische Rezept zu, welches im Nürnberger Germanischen Museum zur Auffrischung von Urkunden benützt wird. Man bestreicht die betreffende Stelle zuerst mit destilliertem Wasser, dann mit Schwefel-Ammoniak. Das Mittel erwies sich als wirksam, die verblassten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlschwarz hervor. Aber da wies sich eine neue Schwierigkeit: Die Schriftzüge waren mikroskopisch klein; oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile.“ Also musste Franzos zur Lupe greifen.
Doch damit waren für Franzos die Schwierigkeiten beileibe nicht behoben: Ludwig Büchner erhielt Franzos' Transkription und sandte sie bald wieder nach Wien zurück, hatte sich aber erlaubt, daran „einige kleine Buchstaben- und Ausdrucksfehler zu korrigieren“. Bald musste Franzos erkennen, dass Ludwig Büchner nicht nur kleine Versehen getilgt, sondern ganz entschieden die derbe Drastik des Textes zu mildern versucht hatte, indem „die Zynismen im bösartigsten Sinne des Worts ,veranständigt‘ oder ganz unterdrückt“ – schlichtweg getilgt – worden waren. Verärgert wollte Franzos aufgeben, doch durch Etiennes Zuspruch kam die Publikation dann doch zustande. Er beharrte auf dem Prinzip der Authentizität und befand mit Recht: „Büchner schrieb jene Zynismen nieder, weil dies seinem Kunstprinzip entsprach: Naturwahrheit bis ins Kleinste und bis zum Äußersten.“ Schließlich konnte Franzos die ausgewählten Szenen in der „Neuen Freien Presse“ so veröffentlichen, wie es seiner Vorstellung entsprach und, wie er zumindest mitteilte, ohne Eingriffe oder Veränderungen.

Wendelin Schmidt-Dengler (1942–2008) war ein österreichischer Literaturwissenschaftler.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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