Seit Nizza triumphiert der „nationale Egoismus"

EU in der Krise. Die Idee einer Europäischen Republik von Coudenhove-Kalergi ist vorerst an einer Fehlkonstruktion der EU gescheitert - unter anderem am Europäischen Rat, der zu einem Basar nationaler Interessen verkommen ist.

Die EU sei ein Garant für Wohlstand, fairen Wettbewerb, aber vor allem für Frieden. Das war die unwidersprochene Nachkriegslosung gewesen. Dann kam der EU-Gipfel in Nizza, im Dezember 2000. Ein von Rückenschmerzen geplagter französischer Präsident ließ zu, dass das Projekt Europa gänzlich zum Basar nationaler Interessen verkommen ist. Jacques Chirac wahrte nicht einmal mehr den Schein gemeinsamer Ziele, sondern ließ einen absurden Abtausch zu - etwa von Parlamentssitzen gegen Gipfel-Austragungsorte. Jedes Land bekam etwas, die angepeilte Reform blieb auf der Strecke. Nizza leitete eine der schwersten Krisen der Europäische Union ein, die bis heute andauert.

Nationale Interessen prägten zwar schon vor Nizza die gemeinsame europäische Politik. Bis dahin war es aber einzelnen Politikern wie François Mitterrand und Helmut Kohl gelungen, diese Gegensätze in einen gemeinsamen Mehrwert umzuwandeln. So wurde etwa das Streitthema einer unterschiedlichen Währungspolitik von Frankreich und Deutschland zum Antrieb für die Gründung einer gemeinsamen Währung. In Nizza wurde hingegen der gemeinsame Mehrwert entsorgt. Der Autor und derzeitige Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel, Michael Mertes, bezeichnete den Gipfel danach als „Triumph des nationalen Egoismus".

Die europäische Konstruktion erwies sich, ein Dreivierteljahrhundert nachdem Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi in der „Presse" seine Ideen von Paneuropa präsentierte, als nicht stark genug. Weder gab es gemeinsame Institutionen, die unabhängig im Sinne des Gemeinwohls agieren konnten, noch gab es eine ausreichende demokratische Konstruktion, um Reformen auf breiter Basis zu ermöglichen. Es dominierten, wie sie der damalige grüne Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber nannte, „Kurfürsten". Die neuen Kurfürsten, die Staats- und Regierungschefs, riefen diesmal keine ausländischen Heere zu Hilfe, sondern zerfleischten sich selbst.

Nach dem Desaster von Nizza wurde noch einmal ein Versuch unternommen, der Fehlentwicklung entgegen zu wirken. Es wurde ein Plan für eine Verfassung entwickelt. Die EU sollte zu einem staatsähnlichen Gebilde reifen, mit starken demokratischen Institutionen. Antrieb war nicht mehr die Kriegserfahrung, sondern die Erkenntnis, dass in einem globalisierten Umfeld der Nationalstaat alleine chancenlos ist. Nur ein Europa, das seine Außenpolitik, seine Währung, seinen Handel gemeinsam betreibt, sollte stark genug sein, den Wettbewerbsstürmen aus Asien standzuhalten.

Die Definition allein über das wirtschaftliche Ziel war logisch, aber nicht geeignet, die Menschen zu begeistern. Die Verfassung wurde 2005 in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Der daraus entstandene Lissabon-Vertrag konnte 2009 in Kraft gesetzt werden, aber er markierte eher das Ende der politischen Integration als deren Erstarken.

Abseits demokratischer Kontrolle

Die „Kurfürsten" haben mit dem Lissabon-Vertrag ihr eigenes Gremium gestärkt. Die Staats- und Regierungschefs dominieren heute die EU-Entscheidungen. Sie sind es, die in der Finanz- und Schuldenkrise neue Rettungsschirme, einen neuen Stabilitätsmechanismus abseits demokratischer Kontrollen errichten. Die entmachtete EU-Kommission beschäftigt sich indessen mit Inhaltsstoffen von Parfums und anderen Nebensächlichkeiten. Sie trägt auf ihre Weise zur Entfremdung der Menschen von der europäischen Idee bei.

Von einer „Europäischen Republik", wie sie Coudenhove-Kalergi propagierte, ist die Union wieder ein Stück weiter entfernt. Der Schriftsteller Robert Menasse und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die gemeinsam die Idee einer solchen Republik propagieren, schrieben in dieser Zeitung: „Wer immer heute in der entscheidenden Instanz der EU, dem Europäischen Rat, die Führungsrolle beansprucht oder zugeschrieben bekommt: Er oder sie ist in sechsundzwanzig der siebenundzwanzig Mitgliedstaaten nicht gewählt. Wer immer ,demokratisch legitimiert‘, also gewählt, Europapolitik macht, ist nur durch nationale Wahlen in diese Position gekommen und muss, um politisch zu überleben, die Fiktion ,nationaler Interessen‘ verteidigen."

Die EU hat sich mitten in der Krise weiter fragmentiert. Die Folge ist ein Auseinanderdriften der Politik der Mitgliedstaaten. Großbritannien, das laut Coudenhove noch nie zur Gemeinschaft passte, debattiert sogar einen Austritt. Der niederländische Premier Mark Rute fordert offen eine Stärkung der Nationalstaaten in der EU. Es ist der Retourgang eingelegt.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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