1963: Der größte britische Postraub und sein Mythos

1963: Der größte britische Postraub und sein Mythos
1963: Der größte britische Postraub und sein Mythos(c) EPA (Staff)
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Ein Gangsterstück vor fünfzig Jahren. Nur ein Räuber entkam und wurde weltberühmt: Ronald Biggs. Ein "Presse"-Interview in Rio vor vielen Jahren. Ausnahmsweise ganz ohne Honorarnote.

In meinen 47 „Presse“-Jahren durfte ich nur ein einziges Mal einen Räuber interviewen – und das eher durch Zufall. Sonst keinen Dieb, keinen Hehler, keinen Einbrecher, keinen Panzerknacker, Mörder sowieso nicht. Nein, man hatte es täglich mit Politikern zu tun. Da waren viele aufrichtige dabei, mitunter aber auch Lügner, Bankrotteure, Heuchler, Korrupte – ja, das schon.

Nur ein Räuber also. Dafür aber eine Weltberühmtheit. Der Posträuber! Vor exakt fünfzig Jahren hatte in Großbritannien seine große Stunde geschlagen, und das, obwohl er anfangs nur eine ganz kleine Nummer beim berühmtesten Geldraub aller Zeiten war. Damals, am 8. August 1963, auf den Postzug der britischen Royal Mail bei Ledburn (Grafschaft Buckinghamshire).

Rio de Janeiro, im Juni 1980. Die Bar an der Copacabana heißt „Ouro Verte“, eine von unzähligen entlang dem prächtigen Strand. Vor dem Lokal ein sündteurer silberner Jaguar mit Chauffeur. An der Theke der einzige Gast: ein braun gebrannter Sir mit Silberhaar, rotem Sporthemd mit dem Krokodil. Offensichtlich der Chef dieses Schuppens. Verzeihung, sind Sie nicht Mr. Biggs? Ja, und? Woher sein Besucher komme? „Oh, Vienna? I love Vienna.“ Der Mann war sicher nie dort.

Ob man ihn eventuell zu einem Whisky einladen dürfe? Biggs lacht dröhnend, ordert eine ganze Bottle auf Hauskosten. Und erzählt seine Geschichte, wie er sie zuvor schon hundertfach geschildert haben wird.

Der königliche Postzug

Es war der 8. August 1963, „Ronnies“ 34. Geburtstag. Mit 15 Knastbrüdern aus zwei Gangs überfiel er um 3.10 Uhr morgens den königlichen Postzug von Glasgow nach London. Der Zug wurde an einer Brücke in Ledburn nahe Mentmore, in der Grafschaft Buckinghamshire durch ein manipuliertes Zugsignal zum Stehen gebracht. Der Lokführer Jack Mills durch einen Schlag auf den Kopf bewusstlos geschlagen (der litt später lange noch an den Folgen und starb 1970). Ein Mitglied der Bande nahm seine Stelle ein. In Windeseile waren die hinteren Waggons abgekuppelt, in denen ahnungsloses Postpersonal hantierte. Die Gangster fuhren mit der Lokomotive und dem Geldwaggon 800 Meter weiter zu einer Brücke, warfen die Geldsäcke in die darunter bereitstehenden Fluchtfahrzeuge und ab ging's zu ihrem Versteck, einer 25 Meilen entfernten Farm östlich von Oakley (Buckinghamshire).

120 Geldsäcke erbeuteten sie. Inhalt: 2.631.784 Pfund. Das wären nach heutigem Wert etwa 46 Millionen Euro. Biggs behauptete, dass die drei nicht gefassten Bandenmitglieder zusammen mit dem Geld auch fünfzig ungeschliffene Diamanten erbeutet hätten. Er selbst hat nach eigenen Angaben einen Anteil von 148.000 Pfund (also rund 2,3 Mill. Euro) bekommen.

Lang suchte die Polizei vergeblich nach einer heißen Spur, weil die Täter Handschuhe und Masken getragen hatten und die Beute so schnell zu ihrem nahegelegenen Versteck abtransportierten, dass Straßensperren zu spät kamen. Dennoch gelang es Scotland Yard innerhalb weniger Monate, zwölf Gangster festzunehmen.

Unverhältnismäßig hohe Strafen

Im bis dahin längsten Prozess der britischen Justizgeschichte wurden die Verhafteten 1964 in Aylesbury zu meist drakonischen Haftstrafen verurteilt. In den Medien gab es sogar Proteste dagegen. Für Biggs setzte es gleich dreißig Jahre Knast. Aber das Geld war weg – und Mr. Biggs nach 15 Monaten auch: Mit drei Mithäftlingen überwand er die sechs Meter hohe Gefängnismauer in Wandsworth mit Strickleitern und ließ sich auf der anderen Seite durch das ausgesägte Loch im Dach eines bereitstehenden Möbelwagens fallen. Er war recht erfinderisch.

Noch einem Kumpel gelang damals die Flucht. Charlie Wilson lebte außerhalb Montreals in Kanada in einer Wohngegend der Mittelschicht. Doch seine Ehefrau machte den Fehler, ihre Eltern in England anzurufen, Scotland Yard schlug zu.

„Ich lebe hier großartig“

Zurück zu Biggs: Nach einer Gesichtsoperation in Paris tauchte der meistgesuchte britische Verbrecher schließlich in Brasilien auf. In Rio. In einer Villa im nobelsten Viertel, auf einer hübschen Hanglage, Swimmingpool dabei. Das Haus gehörte einer jungen Brauereierbin, die dem eleganten Flüchtling bald mit Haut und Haaren verfallen war.

Ein Söhnchen kam gerade zur rechten Zeit auf die Welt – damit war Biggs für lange 18 Jahre vor den Nachstellungen der Interpol gefeit. Brasilien durfte ihn nicht abschieben. Wollte das auch gar nicht, denn der berühmte Zuwanderer wurde zur Medienattraktion. Gegen gutes Geld verkaufte er unzähligen Zeitschriften seine unglaubliche Story. Um sechzig Dollar durfte man mit ihm frühstücken.

Aber weil er „Vienna“ angeblich dermaßen liebte, tat er's diesmal auch ohne Honorar. Haben Sie Heimweh, Mr. Biggs? „Nein, damit hat das nichts zu tun. Ich lebe hier ein großartiges Leben. Aber wissen Sie, ich habe keine gültigen Papiere. Ich will, dass man mich endlich begnadigt, damit ich britische Papiere bekomme. Mein Sohn soll endlich meinen Namen tragen können.“

Eine recht rührselige Klamotte. Wie kamen seine Kumpels (die fast allesamt verhaftet worden waren) und er auf die Idee für den Super-Coup? „Ich war schon früher im Gefängnis, wegen eines kleineren Dings. Da hat mir einer erzählt, dass Geld mit der Bahn transportiert wird. Ja, und dann begannen wir zu planen . . .“

Wie fühlt sich solch ein Mann? Als Verbrecher? Als besonders cleverer Gauner? „Keine Spur! Ich habe ja kein Verbrechen gemacht, sondern einen Trick. Das ist kein Verbrechen. Das ist so, wie wenn jemand im Waschraum sein Sakko aufhängt, und der Nächste nimmt es sich. Die ganze Welt besteht aus Tricks.“

„We only had sticks . . .“

Ob er geschossen hätte, wenn er in Gefahr gewesen wäre? Zugegeben, eine wenig originelle Frage. Biggs hebt pathetisch sein Glas: „Never! Wir waren doch alle unbewaffnet. We only had sticks . . .“

Und – lieben Sie Geld? „Nun, sagen wir, es ist sehr hilfreich.“

Mister Biggs, wohin verschwand der Schatz? Diese Frage überhört der Gentleman mit einem leisen Lächeln. „It's stolen.“ Sein Leibwächter, der inzwischen ins Lokal gekommen ist, springt für seinen Herrn und Meister in die Bresche: Wortreich versichert er, dass sein „Freund“ keinen Cent, keinen Cruzeiro besitze. Nur Platten- und Büchertantiemen hielten ihn über Wasser. Und eben „gute Freunde“, die für den Verarmten sorgten.

Und noch eine Bottle

Die Räuberlegende ordert fröhlich eine zweite Flasche Whisky. Was tut man nicht alles für eine Super-Story? Biggs erzählt uns von seinem verzwickten Privatleben. Seine geschiedene Frau Charmaine lebte in Australien, einer der beiden Söhne aus dieser Ehe war dort bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bei der wohlhabenden Brasilianerin Raimunda fand der Flüchtling eine luxuriöse Verschnaufpause. Sie schenkte ihm den Sohn Michael, heiratete wenig später einen Schweizer, hinterließ ihm aber den Sohn quasi als Lebensversicherung. „Wir hatten eine Affäre miteinander“, kommentiert Biggs kühl lächelnd. Das Superhirn plante offensichtlich all seine Aktionen generalstabsmäßig.

Dennoch wurde ihm langweilig: Tagsüber Zuckerrohrschnaps am Pool, abends in die Bars mit Leibwächter. „Ich brauche das Risiko. Als im Vorjahr die Marine Ihrer Majestät der Queen im Hafen von Rio ankerte, feierte ich mit den Offizieren – unerkannt – drei Tage lang. Erst am Landungssteg winkte ich ihnen zurück: Hello, I am Ron Biggs! God save the Queen!“

Guter Rat gegen Diebstahl

Als wir einander damals – 1980 – trafen, stand Rio schon fußballbegeistert kopf: Am Tag darauf sollte im Maracanã-Stadion das Ländermatch Brasilien gegen die UdSSR in Szene gehen. Indigniert musterte Biggs die Menschenmassen draußen vor dem Lokal. Und sorgte – als gewiefter Medienprofi – gleich selbst für die Schlusspointe: „Ins Maracanã gehen Sie? Be careful! Keinen Ausweis mitnehmen, ja kein Geld! In diesem Land stiehlt man Ihnen alles . . .“
*

2001, nach 35 Jahren Flucht und 30 Jahren in Brasilien, kehrte Biggs schwer krank nach England zurück. Die Boulevardzeitung „Sun“ hatte einen Privatjet gesponsert und hält seitdem die exklusiven Rechte. Im Gefängnis von Norwich sollte er die noch ausstehenden Jahre seiner Haftstrafe verbüßen. 2002 heiratete er seine Raimunda im Gefängnis – im Beisein von Sohn Michael und Enkelin Ingrid. Nach zwei Schlaganfällen kann er nicht mehr sprechen, er ist ein Pflegefall, seit man ihn aus dem britischen Gefängnisspital als haftunfähig entlassen hat.

Am 8. August wird er 84. Fünfzig Jahre nach dem größten Coup seines Lebens.

Der „Gentleman“-Räuber, seine Kumpels – und was aus ihnen wurde

Das Geld. Die gestohlenen Scheine waren abgegriffene Pfundnoten, die nach London zurück sollten, um dort vernichtet zu werden. Von den 2.631.784 Pfund konnten nur rund 330.000 wieder gefunden werden: 146.000 hatten zwei Kumpane bei ihrer Festnahme in Bornemouth bei sich, 100.900 wurden auf einer Lichtung gefunden, 47.245 in einer Telefonzelle, 36.000 im Wohnwagen eines weiteren Gangsters.

Fluchtfinanzierung. Größtenteils waren die Banknoten (Ein-Pfund-, Fünf-Pfund- und Zehn-Shilling-Scheine) nicht registriert, somit lassen sich spätere Funde nicht zuordnen. Man nimmt an, dass insbesondere die länger flüchtigen Gauner einen großen Teil ihres Anteils für mühsame Fluchtpläne ausgegeben haben.

Schweigegelder. Doch auch die anderen mussten in den Wochen bis zu ihrer Verhaftung hohe Schweigegelder zahlen oder wurden selbst bestohlen. Zudem wurden jene Anteile wertlos, die länger versteckt blieben: 1971 wurde der Shilling abgeschafft.

Was wurde aus ihnen? Ronald Biggs (l.) wartet in einem Pflegeheim auf den Tod.

Die Kumpels. Auch die übrigen Mitglieder der zwei Verbrechergangs wurden – mit wenigen Ausnahmen – nicht glücklich trotz des Reichtums. Einer – Bruce Reynolds – saß zehn Jahre ab und wurde später wegen Drogenhandels neuerlich verurteilt; ein anderer wurde Blumenhändler und erhängte sich 1994.

Erschossen. Charlie Wilson, der beim Prozess kein Sterbenswort gesprochen hatte, saß zwölf Jahre, im April 1990 wurde er vor seinem Haus in Marbella erschossen. Roy James verbüßte zwölf von 30 Jahren Haft, in Freiheit schoss er auf seine Frau und den Schwiegervater, saß wieder sechs Jahre, 1997 starb er.

Verunglückt. Brian Field, ein Rechtsanwalt und Strohmann, der die Farm für den Coup gekauft hatte, büßte fünf Jahre. 1979 starb er bei einem Verkehrsunfall.

Wirte, Ladenbesitzer. Nur ganz wenige schafften es zurück ins bürgerliche Leben. Einer betreibt heute eine Strandbar in Südspanien, ein anderer ist biederer Ladenbesitzer. Wer von den anderen noch am Leben ist, verbringt ein Pensionistendasein in aller Stille und Zurückgezogenheit. [AP]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2013)

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