Vorabdruck

Sie war natürlich Ophelia

Ein Beobachter sähe eine Prinzessin in ihr. Oder die zukünftige Chansonette. Oder den zukünftigen Filmstar. 
Ein Beobachter sähe eine Prinzessin in ihr. Oder die zukünftige Chansonette. Oder den zukünftigen Filmstar. Inge Morath/Picturedesk
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Weil alle meinten, sie sei von wem auch immer, Gott, Natur, Schicksal, Universum, für die Schauspielerei gemacht, meldete sich ­Gloria schließlich beim Max Reinhardt Seminar in Wien an. Aus dem Roman „Die Jungfrau“.

Wir sitzen nebeneinander auf der Steinbank, unsere Füße berühren den Boden nicht, schon damals wurden Steinbänke für Personen mit längeren Beinen gebaut. Halten wir uns an der Hand? Schaukeln wir mit den Beinen, wie es Zehnjährige tun? Aber wir sind doch schon sechzehn! Schon Frauen. Haare an allen Stellen, wo Frauen Haare haben. Noch zwei Jahre, und wir dürfen in jedes Kino gehen! Noch fünf Jahre, und wir dürfen wählen.

Aber das interessiert uns nicht, also wirklich nicht! John F. Kennedy ist erschossen worden. Wir hören im Radio, wie es geschehen ist, wer es getan hat und vielleicht warum. Hängen bleibt bei mir, dass sein Sohn John-John genannt wird und bei der Beerdigung seines Vaters wie ein Soldat salutiert. Er ist erst drei Jahre alt. Am Tag, an dem Mister President beerdigt wird, ist his birthday. Er grüßt seinen Vater und weiß nicht, dass er nie wieder zur Tür hereinkommen wird. Ich könnte nach Amerika ziehen und mich als Nanny bei den Kennedys bewerben und mich um den kleinen John-John kümmern und Amerikanerin werden, die nach zwanzig Jahren Deutsch mit Akzent spricht.

Aber daran denke ich nicht, während wir auf der Steinbank sitzen. Es ist Sommer und noch früh am Tag, Tau liegt auf den Blättern der Sträucher, funkelt in den Spinnennetzen. Kein Hauch. Glitzernde Schneckenspuren auf den Steinplatten unter unseren Füßen und im kurzgeschorenen Gras. Von irgendwoher riecht es nach frischem Brot. Ich denke in die Ferne, ferne Zeit, ferner Ort, ich in ferner Zeit, ich an einem fernen Ort, keine wirkliche Zeit, kein wirklicher Ort. Ich habe Gloria den Rossschwanz gelöst und ihr die Haare zu einem Zopf geflochten, alles steht ihr gut. Ich hatte gehofft, sie macht auch etwas mit meinen Haaren, hat sie nicht.

Warum sind wir nicht in der Schule? Sind Sommerferien? Gloria und ich sind die Einzigen in der Klasse, die nicht in Urlaub fahren. Würde uns einer beobachten, die Prinzessin sähe er in ihr. Lieber die zukünftige Chansonette. Oder den zukünftigen Filmstar. Und dann sagt sie zu mir: „Ich beneide dich um deine Gedanken.“ Und obwohl ich glaube, diesen Satz hat sie irgendwo aufgefangen und will nichts anderes als ihn an mir ausprobieren, beneide ich sie um diesen Satz. Denn schließlich bin ich die zukünftige Schriftstellerin, die sich schon früh mit interessanten Sätzen hervortun sollte. „Du weißt ja gar nicht, was ich denke“, sage ich.

Ich bereite mich vor. Falls sie fragt, was ich denke. Dass meine Gedanken nicht hinter ihren nachstehen, auch wenn ich vermute, dass ihre Gedanken gar nicht die ihren sind. Wer hat schon eigene Gedanken! „Was denke ich?“, frage ich. Sie antwortet nicht. Sie schaut in die Ferne, wie ich in die Ferne schauen sollte. „Sag mir, was denkst du, dass ich denke!“ Natürlich antwortet sie wieder nicht. „Bitte, was denke ich?“ Dabei war es kein Wettkampf. Es ist unbefriedigend, zu wissen, dass man beneidet wird, aber nicht, worum genau.

„Blöde Kuh, mach, was ich dir sage“

Gloria hatte die besten Noten, sie war mathematisch begabt, ich dagegen eine Flasche. So sagte mein Vater. „Du bist in Mathe eine Flasche.“ Wir saßen in der Schule nebeneinander. Die linken Bänke hatten eine andere Schularbeit als die rechten. Damit nicht abgeschrieben werden konnte. Ich saß da und wusste nichts. Ein erster Überblick über die fünf Aufgaben: keinen Tau! Noch bevor Gloria sich über ihr Heft beugte, diktierte sie mir. Ich legte das Aufgabenblatt so auf die Bank, dass sie es gut lesen konnte. Sie hatte eine eigene Art, mir einzusagen. Sie stierte geradeaus, schielte nur ab und zu herüber, um die Aufgabe abzulesen, bewegte ihren Kopf aber nicht. Sie flüsterte mit geöffneten, unbewegten Lippen und viel Luft. Sie diktierte mir alles, ich schrieb mit. Wenn ich einmal stockte, weil ich meinte, sie liege falsch, dann zischte sie auf die gleiche unbewegte Art: „Du blöde Kuh, mach, was ich dir sage!“

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