Gastkommentar

Geschichtsunterricht nach Putins Geschmack

Peter Kufner
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Fast so wie zu Stalins Zeiten scheint das schlimmste Verbrechen im heutigen Russland darin
zu bestehen, sich nicht nach den Narrativen des Kreml zu richten, sondern die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

Eine revanchistische Agenda steht im Mittelpunkt der russischen Außenpolitik. Sie wird von dem Wunsch getrieben, angebliche historische Fehler zu korrigieren – und liefert auch den Grund für den Krieg gegen die Ukraine. Aber der russische Präsident, Wladimir Putin, scheint vergessen zu haben, dass die Neuschreibung der Geschichte im Interesse der Machthaber häufig nach hinten losgeht und Widerstand hervorrufen kann.

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Ein gutes Beispiel dafür sind die neuen russischen Geschichtsbücher für Zehnt- und Elftklässler. Verfasst wurden sie vom früheren Kulturminister Wladimir Medinski und von Anatoly Torkunov, Rektor des einst namhaften Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO). Sie loben die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine und betonen die Notwendigkeit, verlorene „historische Territorien“ des Landes zurückzuholen.

Alternative Narrative

Russlands revanchistische Wende reicht dabei bereits vor den Februar 2022 zurück. Die staatliche Propaganda stellt das Land schon länger nicht mehr als Kolonialmacht dar, sondern als „besondere Zivilisation“, die ihre einmalige Essenz beibehalten müsse und deren Untergang weltweites Chaos auslösen könnte.

Sicherlich hat sich die russische Kultur schon häufig in grandiosen Selbstdarstellungen gesuhlt. Bereits der Kollaps der Sowjetunion hat das Bedürfnis der Russen nach würdevolleren und weniger chaotischen Narrativen verstärkt, was zu einer Reihe alternativer Geschichtsschreibungen führte. Unter Putin haben es diese üppig ausgeschmückten Erzählungen dann sogar auf die große Bühne geschafft.

Als Putin und seine Verbündeten aus den Sicherheitsapparaten (Siloviki) ihre Macht konsolidierten, gelangten die fantastischen Narrative über Russlands imperiale Herrlichkeit in die Mitte der Gesellschaft – gefüllt mit zeitreisenden Figuren, die die Ehre Russlands wiederherstellten. Häufig wird in diesen Märchen, von denen viele während der chaotischen 1990er entstanden, die Demokratie als westliches Komplott dargestellt, um Russland zu destabilisieren.

Die Kultur dient in Russland häufig als politisches Barometer. Seit der Krieg in der Ukraine stockt, wurden Narrative wichtiger als Tatsachen. Aber literarische Fiktion und TV-Propaganda haben nur eine begrenzte Reichweite.

Also bekommen die 17-Jährigen des Landes neue Geschichtsbücher, die sie mit dem Glauben indoktrinieren sollen, Russland habe in die Ukraine einmarschieren müssen, um Nazis zu bekämpfen und sich gegen einen übergriffigen Westen zu verteidigen. Aber bei der Verbreitung dieses Narrativs vergisst der Kreml eine wichtige Lektion aus der Sowjetzeit.

Umgeschriebene Lehrbücher

In der Ära Leonid Breschnjew wurden Lehrbücher immer wieder umgeschrieben, um sie an das ständig wechselnde politische Klima anzupassen.

Unter meinem Urgroßvater Nikita Chruschtschow wurde Stalins brutales Erbe – insbesondere die Tatsache, dass Millionen von Menschen unrechtmäßig getötet und eingesperrt worden waren – massiv hinterfragt. Als Chruschtschow 1964 von Breschnjew abgelöst wurde, wurde auch er aus der offiziellen Geschichtsschreibung entfernt.

Durch Michail Gorbatschows Politik der Glasnost (Offenheit) wurden die historischen Verzerrungen ans Licht gebracht, aber Putin ist zu ihnen zurückgekehrt. Fast so wie während der Herrschaft Stalins scheint das schlimmste Verbrechen im heutigen Russland darin zu bestehen, sich nicht nach den vom Kreml genehmigten Narrativen zu richten, sondern die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

Im November 2022, als die Ukraine erfolgreich die Stadt Kherson zurückeroberte – nur Monate, nachdem Russland erklärt hatte, es bleibe „für immer“ dort – machte sich Vasilij Bolschakow aus Rjasan in sozialen Medien über den Rückzug der russischen Truppen lustig. Daraufhin wurde er verhaftet und könnte nun für drei Jahre ins Gefängnis kommen.

Ewiges Opfer Russland

In Putins Russland öffentlich die Wirklichkeit anzuerkennen ist gleichbedeutend damit, „die russischen Streitkräfte zu diskreditieren, ihre Effektivität zu verringern und die Kräfte zu unterstützen, die sich den Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger entgegenstellen“.

Um den Krieg zu rechtfertigen, hat Putin die Propagandamaschine des Kreml massiv hochgefahren. In den revidierten Geschichtsbüchern wird die russische Gewaltanwendung als notwendige Antwort auf Bedrohungen der nationalen Sicherheit dargestellt.

Solche Narrative erklären Russland zum ständigen Opfer westlicher Feindseligkeiten und schieben die Schuld vom Kreml weg auf äußere Gegner. Was eigentlich gemeint ist, liegt auf der Hand: Was auch immer man von Putin halten mag, er schützt Russland – fast genauso, wie einst Stalin während des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlich ist Putins Regime heute aber noch schwächer als die Sowjetunion in ihren letzten Tagen.

Während sich die UdSSR sieben Jahrzehnte lang standhaft zum Kommunismus bekannte, besteht das Glaubenssystem des heutigen Russland aus einem Durcheinander widersprüchlicher „Werte“: Christentum inmitten eines Kriegskults, Stalinismus Seite an Seite mit der Verachtung Lenins (der sich für die ukrainische Identität eingesetzt hat), antiwestliche Gefühle gemeinsam mit intensivem Konsumverhalten.

Von Anfang an hat Putin diese postmoderne Mischung gefördert. Er hat die Nationalhymne aus der Stalinzeit wiederbelebt, sowjetische Armeeflaggen gehisst und sich selbst mit Peter dem Großen verglichen. Diese Inkohärenz spiegelt sich auch in Medinskis und Torkunovs Lehrbüchern wider.

Wahnhafte Überheblichkeit

Dort finden sich nicht nur literarische Schwergewichte wie Michail Scholochow, sondern auch Kritik an sowjetischen Ungerechtigkeiten, wie im „Haus an der Uferstraße“ von Juri Trifonow und erstaunlicherweise sogar ergreifende Romane über das zeitgenössische Russland wie Wladimir Sorokins Eis-Trilogie. In sowjetischer Zeit hätte ich diese Vielfalt als heimlichen Versuch interpretiert, den Kreml durch die subtile Einführung oppositioneller Sichtweisen zu unterminieren. Heute sehe ich sie als Beleg für den offensichtlichen Zynismus und die wahnhafte Selbstüberschätzung des Regimes.

In Trifonows Roman etwa geht es um hochrangige Parteibonzen, die plötzlich in den Gulag deportiert werden. Wie steht eine solche Erzählung mit der offiziellen Behauptung des Putin-Regimes in Einklang, Russland habe immer nur Verteidigungskriege geführt und niemals Menschen aufgrund von Religion, Ideologie oder ethnischer Zugehörigkeit verurteilt? Gar nicht. Und russische Schüler, die diese Widersprüche in der Klasse nicht lösen können, werden wahrscheinlich zu Hause darüber diskutieren, so wie es ihre Eltern und Großeltern einst getan haben.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Copyright: Project Syndicate, 2023

Die Autorin

Nina L. Chruschtschowa (geboren 1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin an der New School.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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