Mein Name sei Niemand

Nach der Vermessung die Verunsicherung der Welt. In „F“ lässt Daniel Kehlmann die Werte zerbröseln; und auch der Mensch ist hohl. Alles ist Gegenstand der Manipulation. Literarische Verwackelungen.

Ein rätselhafter Titel: Das große F, so heißt es in Daniel Kehlmanns neuem Roman, sei ja das Fatum, also das Schicksal. Aber gerade den Fügungen des Schicksals misstrauen die Figuren des Buches. Eine von ihnen sagt: „Der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, das nie für einen bestimmt war. Irgendein Zufallsschicksal.“

Eher zufällig ist wohl auch der Anklang des titelgebenden „F“ zu Begriffen wie Familie, Fälschung und Fiktion. Auf dem Waschzettel unternimmt der Verlag den Versuch, uns die Lektüre mit solchen Assoziationen schmackhaft zu machen. Auch der Name der Familie, um die es geht, passt ins Bild: Arthur Friedland heißt der Mann, dessen drei Söhne wir kennenlernen.

Nicht ganz unbescheiden ist der Bezug zu Kafka und seiner berühmte Initiale „K.“. Das „F“ freilich, das Kehlmann zum Titel nimmt, trägt keinen Punkt. Auf dem Cover erscheint es als dynamische Grafik, ganz so, als ob jemand den Buchstaben absichtlich verwackelt hätte. Verwackelungen machen dann auch den Reiz des Romans aus.

Tatsächlich lässt sich „F“ als ein Gegenstück zum großen Erfolgsbuch des Autors lesen. Während dort der Mathematiker Gauß und der Naturforscher Humboldt die Welt zwar mit zwei unterschiedlichen Methoden erkunden, dies aber im sicheren Bewusstsein tun, dass beide Methoden zur Wahrheit führen, lässt Kehlmann in „F“ die Werte zerbröseln. Fast hat es den Anschein, als habe er zur Vorbereitung des Romans Nietzsche gelesen: Aus der „Vermessung der Welt“ ist hier eine tiefe Verunsicherung geworden.

Die drei Söhne von Arthur Friedland stecken die Bereiche ab: Martin, aus erster Ehe, ist ein übergewichtiger Pfarrer, der nicht an Gott glaubt und auf die drängenden Fragen seiner Gemeinde immer nur eine Antwort hat: „Das ist ein Mysterium.“ Eric ist ein betrügerischer Finanzberater, der ein riesiges Pyramideninvestment aufgebaut hat und den (aus Zufall) die Finanzkrise, in der sich seine Verluste halbwegs verstecken lassen, vor dem Gefängnis rettet. Iwan schließlich, Erics Zwillingsbruder, ist ein Maler, der als Fälscher tätig wird.

Glaube, Geld und Kunst: Das sind die drei, vielleicht etwas mechanisch gesetzten Themen, an denen Kehlmanns literarische Verunsicherungsstrategien ansetzen. Dabei beginnt alles relativ unschuldig, wenngleich ausgerechnet im Orwell-Jahr 1984. Eric und Iwan sind zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt. In der Eingangsszene des Buches sitzen sie mit ihrem Vater im Auto und holen den etwas älteren Martin von seiner Mutter ab. Nach dem Besuch eines abgehalfterten Hypnotiseurs kommt es zum Paukenschlag. Der Vater gibt alle drei Söhne bei Martins Mutter ab und verschwindet spurlos.

Bis dahin ist Arthur Friedland ein erfolgloser Schriftsteller gewesen, kein Verlag hat sich für ihn interessiert. Fernab der Familie – ein Ratschlag, den ihm der Hypnotiseur erteilt hat – aber macht er Karriere. Sein Buch „Mein Name sei Niemand“, konzipiert als eine Dekonstruktion aller Überzeugungen, die man haben kann, erscheint im Privatdruck. Einige Leute bringen sich um, nachdem sie das Buch gelesen haben. Daraus wird in den Medien eine riesige Geschichte, Friedland ist auf einen Schlag berühmt.

Im Winter der eigenen Gedanken

In einer Erzählung mit dem Titel „Familie“ entledigt er sich der Vorstellung, dass seine Vorfahren auf ihn irgendeinen Einfluss haben. Als eigenes Kapitel steht der Text in „F“: ein sprachliches Ritual, das die genealogische Reihe über viele hundert Jahre hinweg in die immer gleichen Formen bringt und bei fast jedem Verstorbenen explizit „kam nie zurück“ anmerkt. Viel glaubwürdiger als in diesem tastenden Ausflug zu einem etwas kühneren Stil ist Kehlmanns Buch in seinen anderen fünf Kapiteln. Das letzte nennt sich übrigens „Jahreszeiten“, besteht aber nur aus drei Teilen, sodass man den Eindruck gewinnen kann, dass hier am Ende bewusst eine Lücke klafft. Tatsächlich bietet „F“ in der Forcierung der Fragen, die es stellt, dem Leser jede Menge Stoff zum Weiterdenken. So schiene es durchaus angebracht, dass der Roman uns – gleichsam: im Winter unserer eigenen Gedanken – allein zurücklässt.

„Germanistenprosa“ lautete der Vorwurf der Kritik an Kehlmanns Erzählband „Ruhm“ (2009). Mir als Germanisten freilich gefällt es, dass auch in „F“ einiges von dem zu finden ist, was in universitären Seminaren seit Jahrzehnten diskutiert wird und in aktuellen Debatten vielleicht schon wieder als überholt gilt: Theorien der Autorschaft etwa oder ästhetische Konzepte der Postmoderne, die das Kunstwerk nicht als das Produkt eines genialischen Schaffensaktes sehen, sondern als eine Durchsetzungsstrategie auf dem Markt. Dass ausgerechnet der „genialische Jungstar“ der deutschsprachigen Literatur, heute schon etwas angegraut, jetzt mit solchen Dingen kommt, verleiht der Sache einen zusätzlichen Reiz.

Superb ist die Geschichte von Iwan, in die Kehlmann die Theorie verpackt. In ihrem Zentrum steht Heinrich Eulenböck, ein ältlicher Maler, der fernab des zeitgenössischen Betriebs Bauernhäuser auf Leinwände pinselt. Iwan, der als Künstler gescheitert ist, es aber als Kunstkritiker zu einigem Ansehen gebracht hat, macht aus Eulenböck einen Star. Fortan und weit über Eulenböcks Tod hinaus malt er selbst dessen Bilder: Alltägliche Szenen in konventionellem Stil, wobei aber auf fast jedem Gemälde irgendwo ein modernes Kunstwerk zu sehen ist. Vielleicht ist das gar eine Metapher für das Buch „F“?

Bald wird Eulenböck nicht allein als Antipode der Moderne, sondern auch als deren ironischer Höhepunkt gefeiert. Als Vorstand der Eulenböck-Stiftung und als führender Experte hält Iwan auch durch taktische Ankäufe die Preise hoch. Gegen Ende aber verschwindet er so plötzlich aus der Welt wie einstmals sein Vater. Eric, dessen frühere Geschäftspraktiken an jene des amerikanischen Milliardenbetrügers Bernard L. Madoff erinnern, übernimmt danach das Eulenböck-Geschäft und baut sich so eine neue Existenz auf. Das Geld und die Kunst werden solcherart noch einmal in direkter Weise aufeinander bezogen. Letztlich erweist sich in „F“ das eine wie das andere nicht als ein substanzieller Wert, sondern einzig und allein als Gegenstand von Manipulation.

Aber nicht nur seine Werte, sondern auch der Mensch ist hohl. Der große Lindemann, so heißt der Hypnotiseur der Eingangsszene, spricht diesen Satz später in einem Traum. Völlig ausgehöhlt und dabei am wenigsten überzeugend ist Martin. Von ihm heißt es, dass er nur deshalb Pfarrer geworden ist, weil er keine Frau gefunden hat. Martin hat im Buch das Schlusswort. Nachdem Iwan für tot erklärt wurde, versammelt sich die Familie zur Seelenmesse. Dem Ritus entsprechend fordert der Dicke zum „Bekenntnis des Glaubens“. Bei Daniel Kehlmann wirkt die Formel so leer, dass man glatt wieder an sie glauben könnte. ■

Daniel Kehlmann

F

Roman. 384 S., geb., € 23,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.