Die Revolte im Gesicht

Als ich mich mit den Charakterköpfen des Franz Xaver Messerschmidt (1736 bis 1783) zu beschäftigen begann, war ich fasziniert vom Gleichklang seines und meines künstlerischen Bestrebens. Der politischen Bedeutung seines Werks wurde ich mir erst später bewusst.

Bis 1989 waren die Mimik und das neue großformatige Bildnis das Hauptthema meiner Arbeit. Das Interesse für den Gesichtsausdruck verband mich mit dem Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt (1736 bis 1783), dem Kenner der Schwächen der menschlichen Seele, mit dem ich mich 1972 zu beschäftigen begann. Ich wollte sein Werk nicht aktualisieren oder durch Übermalung seine Wirkung steigern, sondern ich war fasziniert vom Gleichklang seines und meines künstlerischen Bestrebens, die damals eine Zeitspanne von fast 200 Jahren trennte. Ich wunderte mich über die Aktualität seiner Grimassenköpfe, das heißt darüber, wie wenig sich seit fast 200 Jahren der Gesichtsausdruck und die Psyche des Menschen geändert haben. Der politischen Bedeutung des Werks dieses Rokokobildhauers wurde ich mir erst später bewusst.

Ich stand vor dem Spiegel, zeichnete mein Gesicht und stellte fest, dass ich nicht jeden Gesichtsausdruck der Messerschmidt'schen Charakterköpfe nachvollziehen konnte. Etliche waren mir fremd. Das bewies mir die Individualität der menschlichen Psyche. Ich sammelte Abbildungen von Sportlern wie Boxern und Fußballspielern, von Kriminellen, Politikern, Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Fahndungsfotos, an denen ich mich bei meiner Suche nach den Idealbildern unterschiedlicher psychischer Zustände zusätzlich orientierte.

Ich wählte die strenge Frontalansicht und bemühte mich um direkten Augenkontakt mit dem Bildbetrachter. Eine Umkehr der üblichen Situation sollte stattfinden: Nicht die Betrachter sollten die Bilder anschauen, sondern die Bilder ihre Betrachter. Meine Modelle wählte ich selbst aus, wobei ich mich bewusst für hohe Repräsentanten aus Kunst, Politik und Wirtschaft entschied – Positionen, die damals fast ausschließlich Männern vorbehalten waren.

Im Zuge meiner Beschäftigung mit Messerschmidts Werk begeisterte ich mich nicht nur für seine Porträtbüsten und die Charakterköpfe; seine merkwürdige, mit vielen, oft widersprüchlichen Begebenheiten ausgestattete Biografie machte mich neugierig auf dieses besondere Künstlerleben. Der aus Deutschland aus ärmlichen Verhältnissen stammende Bildhauer war am Anfang seiner Karriere sehr erfolgreich. Er war Assistent in einer Bildhauerklasse der Wiener Akademie, arbeitete für den höchsten Adel, fertigte lebensgroße Statuen der Kaiserin Maria Theresia, ihres Gemahls und Reliefs anderer Aristokraten an. Als vertraglich festgesetztem Nachfolger für die nächste vakante Professorenstelle an der Akademie wurde ihm diese jedoch vorenthalten und mit dem heute kaum bekannten Bildhauer Johann Hagenauer besetzt. Messerschmidt wurde mit einem Gnadengehalt, das der selbstbewusste Mann nicht annahm, in erzwungenen Ruhestand versetzt. Weswegen fiel Messerschmidt plötzlich in Ungnade?

Fürst Wenzel Anton Kaunitz, der Staatskanzler, berichtete der Kaiserin über „seltene Grillen in der Einbildung des Bildhauers“ und dessen „Verwürrung“. Was darunter zu verstehen sei, ist unklar. Möglicherweise meinte Kaunitz eine psychische Erkrankung, es könnte aber auch eine geächtete politische Gesinnung gewesen sein. Erst im 20.Jahrhundert, zur Zeit der aufkommenden Psychoanalyse, 140 Jahre nach seinem Tod, wurde der Bildhauer Messerschmidt vom Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris in einem Essay für geisteskrank erklärt. Obwohl eine medizinische Begründung in diesem Text fehlt, die Krankheit – gemeint ist die Schizophrenie – als gegeben vorausgesetzt wird, wurde diese posthume „Diagnose“ in Fachkreisen bereitwillig angenommen.

Dennoch gab es kritische Stimmen, die sie anzweifelten. Im Jahr 2000 erschien der Text „Physiognomik als Mittel der Psychoanalyse? Ernst Kris deutet Franz Xaver Messerschmidt“ von Uwe Henrik Peters, in dem der Psychiater die Theorie vom geisteskranken Messerschmidt fachärztlich widerlegt und mit ihr endgültig aufräumt.

Was war nun der wahre Grund für Messerschmidts Zwangspensionierung und seine darauf folgende „Flucht“ aus Wien? Sicherlich spielten hier der Neid seiner Kollegen und diverse Machenschaften eine Rolle, die eigentliche Ursache war wohl eine andere. Messerschmidts Leben und die Wirkung seines Hauptwerks, der sogenannten Charakterköpfe sind im Zusammenhang zu sehen mit der politischen und sozialen Struktur des 18.Jahrhunderts, mit der Herrschaft von Kirche und Adel. Vor allem mit der damaligen ideologischen Krise dieses Systems, die, vorbereitet von Naturwissenschaftlern und Denkern wie Spinoza, Descartes und Newton, später von Voltaire, Diderot und Rousseau, in der Französischen Revolution ihren Höhepunkt fand.

Im Allgemeinen kümmerten sich die Künstler in ihren Werken nicht um politische Ereignisse und die sozialen Widersprüche ihrer Zeit. Rauschende Feste, schaukelnde Damen in prachtvollen Gewändern und putzige Engerln in den Wolken waren beliebte Themen ihrer Bilder. Inmitten von Kunstwerken dieser Art mussten Messerschmidts Charakterköpfe wie ein Faustschlag wirken. Überrascht standen ihre Betrachter vor ihnen. Und wenn man auch über sie lachte, wusste man doch genau, dass diese Köpfe gefährliche Gedanken hervorrufen können – etwa den Gedanken der sozialen Gleichheit.

Die Charakterköpfe stellen den Menschen hauptsächlich in seinen Schwächen dar, die den Mitgliedern aller gesellschaftlichen Schichten gemeinsam sind. So verkünden sie neben anderen Gedanken auch den der Ähnlichkeit des gemeinen Volkes und der Herrschaft. Aus dieser Feststellung der den Menschen gemeinsamen Eigenschaften kann man vielleicht schon den Ruf der Französischen Revolution nach Gleichheit heraushören. Auf alle Fälle griff Messerschmidt das Privilegium der Vollkommenheit und Unantastbarkeit der herrschenden Klasse an und stellte die absolutistische Staatsform infrage.

Nach der erzwungenen Pensionierung übersiedelte Messerschmidt nachPressburg und verkehrte vorwiegend mit Leuten aus dem gemeinen Volk. In der Zeit, in der jeder, der auf sich hielt, feine Perücken trug, stellte er sich in einem Selbstbildnis lachend, mit slowakischer Hirtenmütze dar. Das ist ein soziales Bekenntnis, eine politische Botschaft.

Messerschmidt war nicht mein Vorbild. Er regte mich an, das Sehen und Erfassen des Gesichtsausdrucks zu vertiefen und dieses im sozialen, weltanschaulichen und feministischen Kontext wahrzunehmen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.