Die Sehnsucht der Chinesen nach einer „Herrschaft der Gesetze“

Gastkommentar. Die neue Führung in Peking sagt Machtmissbrauch und Korruption den Kampf an. Wie der ausgeht, ist essenziell für Chinas Zukunft.

Das jüngste Gerichtsverfahren gegen Bo Xilai hat Chinas größte aktuelle Herausforderung verdeutlicht: Korruption und Machtmissbrauch durch hohe Funktionäre aus Partei und Regierung. Bo war bis zu seinem Sturz ein potenzieller Kandidat für den Ständigen Ausschuss des Politbüros, dessen sieben Mitglieder das Riesenland praktisch regieren.

Bos Gerichtsverfahren fand in einem für China kritischen Augenblick statt. Millionen Chinesen aus ländlichen Gebieten strömen jedes Jahr auf der Suche nach Arbeit in die Städte; aber nun verlangsamt sich Chinas exportinduziertes Wachstum, das früher die volkswirtschaftlichen Kosten von Korruption und übermäßigem staatlichem Eingreifen verschleiert hat.

Da China jetzt in eine Ära des gemäßigteren Wachstums eintritt, während andere Niedriglohnländer mehr Konkurrenz bieten, wird dieser Schaden immer offensichtlicher – und immer zerstörerischer. Ein wirtschaftlich erfolgreiches China wird wahrscheinlich eher stabil und geopolitisch konstruktiv sein. Ein China mit ernsthaften wirtschaftlichen Problemen wird das viel weniger sein. Als erstes Entwicklungsland, das zu einer globalen Macht wurde, könnte es sogar zum Ausgangspunkt systemischer Risken werden.

Präsident Xis Prioritäten

Die chinesische Fertigung und Montage ist für viele globalen Lieferketten und Produkte unentbehrlich. Zudem besitzt China die meisten US-Schatzpapiere (neben der Federal Reserve), verfügt über erhebliche Euroreserven, wird wahrscheinlich bald Amerikas größter Handelspartner sein und spielt im Handel mit vielen europäischen und asiatischen Wirtschaften eine Schlüsselrolle.

Untersuchungen zeigen, dass eine vehemente Durchsetzung der Eigentumsrechte und ein stabiles, berechenbares Steuer- und Regulierungssystem entscheidend für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg sind. Der Schlüssel zu Chinas Reform und das, was das chinesische Volk am meisten will, ist eine „Herrschaft der Gesetze, nicht der Menschen“: eine gerechte Verwaltung und vernünftige Gesetze, ohne spezielle Vorteile für die wenigen, die Beziehungen haben. Tatsächlich erklärte ja auch Finanzminister Lou Jiwei: „Ressourcen sollten von Preisen und Märkten zugeteilt werden, nicht von Regierungsfunktionären.“

Chinas Präsident Xi Jinping hat erklärt, dass hartes Vorgehen gegen Korruption oberste Priorität habe. In der Tat ist die Eindämmung der Korruption essenziell, wenn China es auf die Liste von Ländern wie Japan, Südkorea, Singapur, Hongkong oder Taiwan schaffen will, die der „Falle der mittleren Einkommen“ entkommen sind. Diese Falle hält viele Entwicklungsländer gefangen und hindert sie daran, den Status einer entwickelten Volkswirtschaft zu erlangen.

Darum geht es eigentlich bei Xis Antikorruptionskampagne, viel mehr als um die Bestechlichkeit und Willkür vieler Funktionäre. Damit China in Zukunft florieren kann, ist es notwendig, dass die Verwaltungsbefugnisse von Regierungsfunktionären eingeschränkt, die Macht von und die Subventionen für staatseigene Unternehmen verringert werden und die Rechtsstaatlichkeit gestärkt wird, indem eine unabhängige Justiz aufgebaut wird.

Zu weitreichende Befugnisse

Doch diese Reformen bedeuten eine Veränderung der Kultur und der Anreize. Einige Funktionäre nutzen ihre weitreichenden Befugnisse zur Vergabe von Lizenzen, Genehmigungen und Verträgen, um damit Vorteile herauszuschlagen. Das Vermögen, das Bos Frau angesammelt hat (das Einspannen von Verwandten ist eine verbreitete Taktik korrupter Funktionäre überall auf der Welt), macht deutlich, welche Möglichkeiten sich den gut Vernetzten bieten. Viele Chinesen nehmen dies einfach als gegeben hin und benehmen sich entsprechend.

Natürlich gibt es Profitgier, Vorteilsannahme und Korruption bis zu einem gewissen Grad überall: Aber sie sind in Entwicklungsländern weiter verbreitet als in Industrieländern, in Ländern mit Planwirtschaft stärker als in kapitalistischen Demokratien. Die Zeit und andere Ressourcen, die Einzelpersonen und Firmen dafür aufwenden, um Vorteile von Staatsseite zu suchen, könnten wesentlich gewinnbringender eingesetzt werden, wenn sie stattdessen in die Produktion von Waren und Dienstleistungen einfließen würden.

Historische Vorbilder

Einige vielversprechende Maßnahmen gegen Korruption haben erfolgreiche Vorbilder in der chinesischen Geschichte – von der Ming-Dynastie bis zum modernen Hongkong. In der Ming-Dynastie kamen die Funktionäre des Kaisers aus anderen Provinzen und wurden häufig versetzt. Um Chinas Zentralbank vor lokalem politischen Druck zu schützen, führte der reformorientierte Premier Zhu Rongji in den 1990er-Jahren eine Umstrukturierung der Chinesischen Volksbank durch und richtete sie regional aus.

In Hongkong war die Korruption noch in den 1970er-Jahren so beherrschend (wenn ein Haus brannte, verlangte die Feuerwehr erst Geld, bevor sie mit dem Löschen begann!), dass ein unabhängiger Antikorruptionsausschuss eingesetzt wurde, um gegen öffentliche wie private Korruption zu ermitteln und Strafverfahren einzuleiten. Hongkong hat die Korruption stark reduziert und die Verwaltung durch einen Straferlass zur Offenlegung der Finanzen von Funktionären verbessert.

Chinas aktuelle Machthaber sollten sich diese Beispiele anschauen. Eine wirklich unabhängige Justiz aufzubauen, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Aber einige Richter könnten von der Zentralregierung ernannt und bezahlt werden – und der Zentrale unterstellt sein anstatt örtlichen Funktionären. Und wie im China der Ming-Dynastie könnten Richter und andere Funktionäre alle paar Jahre versetzt werden.

Ebenso könnte wie in Hongkong ein Straferlass gewährt werden, wenn Funktionäre ihre Finanzen offenlegen, „unerklärlicher Reichtum“ könnte mit Bußgeld bestraft werden. Absolut unerhörtes Verhalten aber sollte vom Straferlass ausgenommen werden.

Angemessene Entlohnung

Die Entlohnung von Richtern und Regierungsfunktionären sollte auf ein wettbewerbsfähiges Niveau angehoben werden. Das würde den Anreiz zur Weiterführung korrupter Praktiken schwächen. Die Bereitschaft der neuen Führung, Korruption öffentlich zu verurteilen, könnte ein Vorbote für echte Antikorruptionsmaßnahmen sein.

Eine unabhängige Justiz und die Offenlegung der Finanzen von Regierungsfunktionären waren entscheidend, um die Korruption in den Vereinigten Staaten und den meisten anderen entwickelten kapitalistischen Demokratien einzuschränken und zu verhindern – auch wenn man sie nicht vollständig eliminieren konnte. Das ist eine Lektion, die China wesentlich schneller lernen muss, als es einigen Mitgliedern seiner fest verwurzelten Elite lieb ist.

Aus dem Englischen von
Anke Püttmann
Copyright: Project Snydicate

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comMichael J. Boskin (*1945 in New York) studierte Wirtschaftswissenschaften in Berkeley. Derzeit Professor für Ökonomie an der Uni Stanford und Senior Fellow der Hoover Institution. Von 1989 bis 1993 war er Chef des wirtschaftlichen Beraterstabs von US-Präsident George Bush sen. [Project Syndicate]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2013)

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