In der psychoanalytischen Auffassung Freuds sendet nicht Gott, sondern das Unbewusste seine Botschaften aus. 
Spectrum

Träumen – aber richtig (und dabei die Welt retten)

Wenn uns jemand erzählt, er habe eine Erscheinung gehabt, denken wir sofort an ein
psychisches Problem. Aber was, wenn wir gerade heute, da sich die Zukunft zunehmend unserer Vorstellungskraft entzieht, dringend Visionen brauchen?

Auf der großen Weltbühne gibt es Phasen, in denen nur eines gewiss zu sein scheint: dass etwas endet oder zumindest in großer Gefahr ist, das man lange für die Normalität hielt. Vieles spricht dafür, dass wir gerade eine solche Phase erleben. Plötzlich wissen wir, mit welcher Wucht Pandemien den Alltag durchbrechen. Plötzlich ist wieder Krieg in Europa, und es wird immer unklarer, wie eine friedliche Weltordnung nach seinem Ende aussehen könnte. Flankiert wird dieser Rückfall in längst über­wundene Zeiten von einer weiteren tiefen Verunsicherung: Plötzlich erzielen rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Parteien Erfolge, die man noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten hat. Plötzlich ist die Demokratie keine Gewissheit mehr, sondern eine Staatsform, die womöglich gerade dabei ist, sich selbst abzuschaffen.

Noch düsterer ist die globale Situation infolge des Klimawandels. Dem Bericht des Weltklimarats IPCC zufolge werden sich Extremwetterereignisse häufen. Eine weitere Beschleunigung der Erderhitzung ist klar abzusehen. Für die Weltmeere hat die Nationale Atmosphären- und Ozeanbehörde im Frühjahr die höchste Temperatur aller Zeiten ermittelt. Bewegungen wie Fridays for Future oder Die Letzte Generation können die deutsche Politik nicht einmal dazu bewegen, ein Tempolimit auf Autobahnen ein­zuführen, weil die Wirtschaft die Politik bestimmt und nicht, wie es sein sollte, umgekehrt. Wer angesichts dieser Lage nicht in Verzweiflung verfällt, hat keinen Realitätssinn. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was tun? Uns fehlen die Kulturtechniken, über die menschliche Gemeinschaften in früheren Zeiten noch verfügten, um einen Weg in die Zukunft zu finden, wenn alles verdunkelt ist. Ich spreche von der Vision, die den Menschen im Traum ereilt. Der Traum galt vielen Völkern als Mittler zu einer Geisterwelt, die Botschaften sendet, die es zu entschlüsseln gilt.

In unserer durchrationalisierten Zeit ist es seltsam, ja verrückt, so zu denken. Lösungen zeigen sich nicht im Traum, sondern weil wir auf die Kraft der Vernunft setzen. Dabei arbeiten wir mit Risikoabwägungen, Zahlen, Expertise. Mit Wahrscheinlichkeiten, Statistiken, Prognosen. Selbst Martin Luther King hatte die Zeile „I have a dream“ zunächst aus dem Redemanuskript gestrichen, weil sie seinen Beratern zufolge nicht passend war für eine politische Rede. Und wie sagte Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Auch im Christentum sind Visionen zentral

Und in der Tat: Wer an Träume, wer an Visionen glaubt, steht mindestens mit einem Bein im mythisch-religiösen Bezugsraum. Der Glaube, dass Träume uns etwas verraten, das wir aus eigener Kraft nicht wissen können, ist tatsächlich sehr alt. Gleich zu Beginn seines Hauptwerkes „Die Traumdeutung“ schreibt Sigmund Freud über die urzeitliche und bis ins klassische Altertum hineinragende Auffassung, dass „Träume mit der Welt übermenschlicher Wesen, an die sie (die Menschen) glaubten, in Beziehung stünden und Offenbarungen von Seiten der Götter und Dämonen brächten“. Auch im Christentum sind Visionen zentral. Maria wird von einem Himmelsboten offenbart, dass sie unbefleckt schwanger werden wird. Josef erscheint im Traum ein Engel, der ihm aufträgt, seine Frau Maria und ihr Kind vor Herodes zu retten und nach Ägypten zu fliehen. Wäre der Engel nicht gewesen, hätte die Welt einen Messias verloren, bevor er überhaupt geboren wurde.

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