Der Sisyphos von Algier

Es ist anders gekommen, als er es sich gewünscht hat: Albert Camus warnte vor deutschen Träumen und beschwor die mittelmeerische Tradition. Was 100 Jahre nach seiner Geburt – der Geschichte zum Trotz – bleibt, sind die Grundelemente seines Werks: vitale Zuversicht und Widerstand.

Mörderisch ist das Mittelmeer geworden, seit Hunderte verzweifelter Flüchtlinge auf der Überfuhr von Süd nach Nord bei Schiffbruch den Tod erleiden. Wer aber gerettet wird, sieht von überfüllten Lagern aus zurück auf das heimtückische Meer, sehnt sich trotz seines Elends von ihm fort, weiter nach Norden, in ein Gelobtes Land, das gut verbarrikadiert ist. Jedoch: „Europa ist tatsächlich dieses inhumane Terrain geworden, auf dem gleichwohl alle von Humanismus sprechen. Es ist dieses Sklavencamp und diese Welt der Schatten und Ruinen geworden. Und das alles nur, weil es sich ohne Distanz den willkürlichsten Doktrinen ausgeliefert hat, weil es von einem Terrain der Götter geträumt hat und weil es zum Zweck der Vergöttlichung alle Menschen mit den Mitteln der Macht unterworfen hat. Die Philosophien des Nordens haben es bei diesem schönen Unternehmen beraten und ihm geholfen. Nie haben solch schäbige Götter auf Erden regiert. Wer wundert sich noch, dass ihre Kirchen zuallererst Polizeistationen sind?“

Nein, Albert Camus, der dies vor 62 Jahren – unter ganz anderen politischen Voraussetzungen, aber immerhin über „das Europa, das wir wollen“ – schrieb, war kein Freund des Nordens. Seine damals, 1951, verfasste Totalitarismus-Analyse „Der Mensch in der Revolte“ beschloss er mit der emphatischen Beschwörung jenes „mittelmeerischen Denkens“, das eine alteingesessene mediterrane Kultur der Gelassenheit, des Maßes und der Naturnähe zu bewahren suchte. Die zentrale Denkfigur dieser „pensée méditerranéenne“ war geprägt durch die Herkunft aus dem antiken Griechenland – und durch Camus' eigene Abkunft als Algerienfranzose, der zeitlebens an den sonnentrunkenen Erfahrungen seiner kargen, aber strahlend bewahrten Jugend festhielt: Fast alle Bücher des Autors spielen an den Küsten des Mittelmeers, und auch die philosophische Abschlussarbeit des 23-Jährigen an der Universität Algier galt den Werken der in Nordafrika geborenen Denker Plotin und Augustinus.

Gegen die Wachstumsideologie

Natürlich haben die Erfinder des Euro Camus nicht gelesen. Sie hätten sonst nicht derart welt- und geschichtsvergessen übersehen können, dass die Arbeits- und Effizienzregeln des Nordens niemals mit den Lebens- und Denkgewohnheiten der mediterranen Länder, mit ihrer Herkunft, Geschichte und Mentalität, in Übereinstimmung zu zwingen sind. Im Essayband „Der Mensch in der Revolte“, der sich neben dem Totalitarismus auch gegen die Wachstumsideologie der westlichen Ökonomie wendet, ruft Camus, der sich im besetzten Frankreich als Widerstandskämpfer in der Résistance gegen die Deutschen aufgelehnt hatte, unverhohlen zum „Kampf zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist“ auf: „Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition.“

Camus war mit solchen Überlegungen damals nicht allein. Erst jüngst hat der Philosoph Giorgio Agamben auf ein Memorandum aufmerksam gemacht, das der aus Russland stammende Jaspers-Schüler und Pariser Parade-Hegelianer Alexander Kojève 1945 für die französische Regierung unter General de Gaulle verfasste. Darin wird hellsichtig die Wiederauferstehung Deutschlands zur führenden Wirtschaftsmacht prophezeit und gegen diese Übermacht von protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist ein mediterraner Großraum lateinisch-katholischer Prägung gefordert: ein Mare Nostrum unter Führung Frankreichs.

Indes, solch hegemoniale Großkonzepte von Sartres Gewaltlehrer Kojève lagen Camus fern. Schon 1937 hatte er in einer Rede in Algier wider den „cäsarischen Imperialismus“ Mussolinis und Francos sein Modell der „pensée de midi“ gesetzt: ein die Gegensätze des Orients und Okzidents überwindender Kulturraum, ein kosmopolitisches Rückzugsgebiet der abendländisch-humanistischen Werte und Lebensart.

„Dieses Gegengewicht, diesen Geist, der dem Leben Maß gibt“, setzte er gegen eine Gesellschaft, in der – wie es in „Der Mensch in der Revolte“ heißt – „2000 Bankiers und Techniker über ein Europa von 120 Millionen Einwohnern herrschen, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens“ ein Leben uniformiert, das „immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird“ und wo „die Verstümmelung des Menschen vervielfacht“ werde.

Im Gegensatz zu Kojève und Sartre war Camus, dieser mediterrane Puritaner, nicht zuletzt durch seine frühen Erfahrungen als Abkömmling französischer Einwanderer in Algerien, gegen die Illusion gefeit, große Erwartungen in politische Zukunftspläne zu setzen, die auf dem Reißbrett von Ideologien oder globalen Marktkonzepten entworfen worden waren. Der vor 100 Jahren, am 7. November 1913, geborene Autor, Sohn einer leseunkundigen Putzfrau und eines bald darauf im Krieg gefallenen Landarbeiters, erlebte am eigenen Leib die Ambivalenz einer Existenz zwischen gleißender Sonne und Proletarierarmut im Elendsquartier, zwischen dem Bewusstsein der eigenen Abkunft als Pied-noir und der gelebten Solidarität mit der unterdrückten muslimischen Mehrheit Algeriens. Diese Ambivalenz machte ihm untilgbar jene Zerrissenheit geschichtlicher Erfahrung innerhalb unserer Zivilisation deutlich, die er „absurd“ nannte: „Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne gut sei; die Sonne aber lehrte mich, dass Geschichte nicht alles ist.“

Dazu kam, im Alter von 17 Jahren, der Schock seiner Erkrankung an Tuberkulose, die ihn, der zeitweilig von den Ärzten aufgegeben war, früh in Todesnähe brachte. Niemals ganz geheilt, blieb die Erfahrung des „Trotzdem“ an ihm haften: Der „Mythos des Sisyphos“ (1943) als Urbild des glücklichen Tragikers, der die Last der Lebensbewältigung immer neu auf sich nimmt, ist neben der zeitgeschichtlich geprägten Symbolfigur auch Spiegelung einer ganz konkreten humanen Erfahrung. Der Augustinus zugeschriebene Glaubenssatz credo quia absurdum est wurde so, ganz diesseitig umgedeutet, zur Überlebensformel eines Existenzialisten: vivo quia absurdum est.

Mit dem „Mythos des Sisyphos“ wie mit der kurz zuvor veröffentlichten Erzählung „Der Fremde“ war der Autor mitten im Krieg schlagartig bekannt geworden. Das Bekenntnis zum Absurden zeigte: Der Kampf auf verlorenem Posten ergibt Sinn. Später, im Juli 1944, heißt es in einem „Brief an einen deutschen Freund“: „Ich glaube weiterhin, dass unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber ich weiß, dass etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er ist das einzige Wesen, das Sinn fordert.“

Den „Fremden“ (1942) lasen seine Zeitgenossen gleichfalls als beispielhafte Darstellung einer absurden Zufallskonstellation, die einen teilnahmslos dahintreibenden jungen Mann am algerischen Strand erst zu einem Mord, dann in den von der sühnesüchtigen Gesellschaft verhängten Tod treibt. Doch der junge Gleichgültigkeitsakrobat Meursault ist ein Kolonialabkömmling, der die arabischen Gegner durch höhnische Verletzung ihres Ehrenkodex provoziert hat. Auf ihr blitzendes Messer hin reagiert er panisch und erschießt einen von ihnen. Die Geschichte, der er zu entkommen suchte, holt ihn ein: eine Vorausdeutung auf die Rückkehr fundamentalistischer Ansprüche an eine ahnungslos gewordene Erbengeneration einstiger Unterdrücker.

Nach dem Krieg setzte Camus dem rund um ihn vorherrschenden Kult des utopischen Denkens das entgegen, was er „Wirklichkeitssinn“ nannte. Ebenso unnachgiebig, wie er die völkisch-reaktionären Freiheitsfeinde bekämpft hatte, begegnete er den marxistischen Rechtgläubigen, die sich, wie Sartre, offen als Gefolgsleute Stalins deklarierten. Mit seiner kategorischen Ablehnung von Lüge, Mord, Gewalt und Terror als strategisch legitimierte Mittel der Politik zerriss er endgültig das Band zur linken Pariser Schickeria. Sie vergalt es ihm mit jahrzehntelanger Ächtung und Verleumdung seiner Person wie seines Werks. Selbst als Camus am 4. Jänner 1960 bei einem tragischen Autounfall 47-jährig ums Leben kam, konnte sich Sartre in seinem Nachruf den Vorwurf nicht verkneifen, Camus, der „Cartesianer des Absurden“, habe sich „geweigert“, „den sicheren Boden des Moralischen zu verlassen und sich auf die ungewissen Pfade der Praxis zu begeben“. Inzwischen hat die Geschichte gezeigt, wie viel ungesicherte Praxis und weltpolitische Vorausschau Camus' menschenfreundlichen Interventionen zugrunde lagen – und wie viel überhebliche Theoriegläubigkeit die Bedeutung Sartres geschmälert hat. Das hebt Camus' Bedeutung für heute hervor: als Vorkämpfer ein unbestechlicher Komplize des menschlichen Ringens um Freiheit und Würde gewesen zu sein. Jedes seiner Werke ist ein Stärkungsmittel in diesem Kampf. Das berührendste darunter ist wohl sein letzter, unvollendet gebliebener Roman „Der letzte Mensch“, eine Suche nach dem verlorenen Sinn der Geschichte des eigenen Vaters.

Politische Grabenkämpfe um Camus

Gleich drei Biografien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sind anlässlich des Zentenariums von Camus' Geburtstag erschienen: Camus' Landsmann Michel Onfray breitet detailreich die politischen Auseinandersetzungen und Grabenkämpfe rund um den Autor des Absurden aus. Der Schweizer Publizist Martin Meyer, der Camus' philosophischen Gedankengängen nachspürt, zieht mit seiner Diktion den Denker in die metaphysische Garküche, dorthin, wo Heidegger und Kierkegaard mit der großen Kelle angerührt haben und die sprachlichen Zutaten zuweilen noch ganz danach schmecken.
Am eingängigsten beleuchtet die Literaturkritikerin Iris Radisch den, wie sie schreibt, „bestaussehenden französischen Schriftsteller aller Zeiten und einen der bedeutendsten Denker und Autoren seines Jahrhunderts“, dem sie nur etwas zu penetrant seine beachtlichen Erfolge bei Frauen vorwirft.

Camus' Traum vom starken, friedlichen Mittelmeerraum blieb ein fragiles Erfahrungs- und Ideengebilde, das längst an der Übermacht der immer ungebändigter werdenden ökonomischen und religionspolitischen Verwerfungen zerschellt ist. Was bleibt, sind vitale Zuversicht und Widerstand, die beiden Grundelemente von Camus' Denken, der Geschichte zum Trotz: „Das Verneinen des Fanatismus, das geliebte Antlitz, die Schönheit endlich, dies ist der Ort. Und wieder einmal wird sich die Philosophie des Dunkels verflüchtigen über dem strahlend hellen Meer.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2013)

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