Culture Clash

Kleben und kleben lassen

Ist die Gutmütigkeit unserer Staatsmacht angesichts übergriffiger Aktivisten „verheerend“ (FPÖ)? Ich (normaler Bürger) habe das Gegenteil erlebt.

In St. Pölten hat sich die Letzte Generation am Donnerstag auf den Schulring geklebt. Die Polizei hat durch eine Umleitung die Verkehrsbehinderung auf ein Minimum reduziert und die Klimaaktivisten einfach picken lassen. Was FPÖ-Landesvizechef Udo Landbauer daraufhin als ein „verheerendes Signal für jeden normalen Bürger“ kritisiert hat.

Ich will mich hier gar nicht auf die Diskussion um den alteingesessenen Begriff des Normalbürgers einlassen. Ich wüsste auch gar nicht die Kriterien zu benennen und könnte daher nicht mit Sicherheit behaupten, als Bürger normal zu sein. Aber macht es mich schon zum außergewöhnlichen Bürger, wenn mir die Strategie, die man im Innenministerium offenbar „kleben und kleben lassen“ nennt, durchaus nichts Verheerendes signalisiert?

Ich habe die Bereitschaft unserer Exekutive zum Deeskalieren – die fast schon an Gutmütigkeit grenzt – kennen und schätzen gelernt, als ich vor zehn Jahren unvermutet die Aufgabe hatte, 80 pakistanische Besetzer zum friedlichen Verlassen der Wiener Votivkirche zu überreden. Das gelang nur, weil Polizei und Innenministerium in kluger Gelassenheit daran mitgearbeitet haben, den Einsatz von Gummiknüppeln und damit jene Eskalation zu vermeiden, an der es von rechts wie von links reges Interesse gegeben hätte.

Gelassenheit ist ein durchgängiges Muster der österreichischen Polizeiarbeit, von Opernball- bis zu Coronademos. Dabei sind zwei Rechtsprinzipien maßgebend, die es so zum Beispiel in den USA nicht gibt: die Verpflichtung zum gelindesten Mittel (um ein Übel abzustellen oder zu verhindern) und die Bedachtnahme auf die Verhältnismäßigkeit eines Einsatzes. Die Zusicherung des „gelindesten Mittels“ (Kontrolle statt Schubhaft) hat damals den Ausschlag für die Flüchtlinge gegeben, sich aus der Votivkirche herauszutrauen. Die „Verhältnismäßigkeit“ war wiederum der Rechtsgrund, warum die Polizei nicht längst schon von sich aus die Kirche gestürmt hatte.

Und siehe da: Diese sehr österreichische Taktik (Gerhard Bronner hat schon 1953 gedichtet und gesungen: „Man beißt auf Schaumgummi, statt auf Granit“) scheint zu funktionieren: Die Nachsichtigkeit hat nicht dazu geführt, dass die Straße gesetzlos geworden wäre. Kirchenbesetzungen sind – gerade wegen des Ausbleibens einer Eskalation – nicht zum Standardrepertoire geworden. Weil eine scharfe Exekutive jedem gefährlich werden kann, gerade auch uns Normalbürgern, ist die Tradition der besonnenen Zurückhaltung unserer Staatsmacht für mich kein verheerendes Signal. Im Gegenteil: Ich fühle mich dadurch sicherer.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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