Meinung: Die Gespenster der Geschichte

D
en Versuch, einen Schluss strich unter das Vergangene zu ziehen und einen Neubeginn zu machen, den wird es immer wieder geben. Er kann sogar gelingen - siehe Deutschland und Frankreich. Aber in den meisten Fällen holen die Gespenster der Geschichte die Davoneilenden wieder ein.

Nirgendwo sonst in Europa sind die Armeen aus dem Osten und Westen, Norden und Süden so oft durchgezogen wie in Mittel- und Osteuropa. Gerade in diesem Raum spielte sich auch das bisher größte Blutbad der Menschheitsgeschichte ab, der von Hitler losgetretene Zweite Weltkrieg.

Dass man in Russland den 60. Jahrestag der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland im Mai groß feiern will, ist also verständlich; dass Moskau Respekt vor den Millionen russischen Opfern fordert, die von den deutschen Aggressoren ermordet wurden oder die im Kampf gegen Hitler gefallen sind, auch.

Nicht verständlich ist aber, wenn Russland eine Art Monopol auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg reklamiert. (Haben etwa Weißrussland, die Ukraine und Polen in diesem Krieg nicht verhältnismäßig mehr Opfer zu beklagen gehabt als Russland?) Nicht verständlich ist, wenn Moskau darüber nichts hören will, dass es seine Hände nicht in Unschuld waschen kann, weil Stalins Sowjetunion vor Ausbruch des Weltkriegs 1939 schamlos mit Hitlers Drittem Reich gepackelt hat und die beiden Tyrannen Ostmitteleuropa unter sich aufgeteilt haben.

Nicht verständlich ist, wenn das heutige Russland seinen Nachbarn nicht zugestehen will, dass sie ihre ganz speziellen Erfahrungen mit dem Sieg der Roten Armee verbinden, weil dieser für sie neuerlich eine Ära jahrzehntelanger Unterjochung bedeutete - durch das Sowjetregime. Und ganz und gar nicht verständlich ist, dass am 9. Mai in Moskau nicht nur der Sieg über Hitler gefeiert, sondern an diesem Tag auch ein Denkmal für Stalin enthüllt werden soll. Gerade das sollte eigentlich für alle eingeladenen ausländischen Staatsgäste Anlass sein, sich eine Zusage zweimal zu überlegen.

M
an soll mit Russland und den Russen den Sieg über den Nationalsozialismus feiern. Aber zuerst müssen Russland und seine Menschen endlich einen ehrlichen Umgang mit ihrer eigenen Geschichte pflegen. Und zu der gehören nicht nur Helden, sondern auch ein paar der verabscheuungswürdigsten Gestalten der Geschichte, allen voran Lenin und Stalin. Das neue Russland wird erst dann ein gutes und auf gegenseitigem Respekt beruhendes Verhältnis mit allen seinen Nachbarn aufbauen können, wenn es auch zu den Schattenseiten seiner Vergangenheit steht. Erst dann werden die Gespenster der Geschichte ruhen.


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.