Genderforschung: Wir werden pragmatischer

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Während vor zehn Jahren viele Menschen ihre Rolle radikal modernisieren wollten, hat sich nun die Entwicklungsrichtung laut einer Studie verändert. Zumindest bei Frauen ist aber von einer Retraditionalisierung keine Spur.

In der heftig und emotional geführten Diskussion um die Geschlechterrollen tauchen ständig neue Begriffe auf, deren Konjunktur oft nicht lange dauert – man erinnere sich an die viel diskutierten Bücher „Das Eva-Prinzip“ oder „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“, aber auch an heiße Debatten um den „Neuen Mann“ (der manchen Frauen schon bald wieder zu „soft“ war). Sicher ist: Der Streit um Feminismus, Postfeminismus, Frauen- und Männer-Emanzipation mäandriert ziemlich frei herum – ein Zeichen dafür, dass die Männer- und Frauenrollen in Bewegung sind.

Zu diesem Schluss kommen auch der Pastoraltheologe und Werteforscher Paul Michael Zulehner und die Sozialethikerin Petra Steinmair-Pösel in ihrem eben erschienen Buch „Gleichstellung in der Sackgasse?“ Sie bieten darin eine mögliche Erklärung für die aktuelle Entwicklung an – die auch etwas Ordnung in das unüberschaubare Meinungsdickicht bringt. Die Basis sind drei repräsentative Umfragen, die im Abstand von jeweils zehn Jahren – 1992, 2002 und 2012 – durchgeführt wurden und durch ihr Design Langzeitvergleiche erlauben.


Umfangreiche Daten. Das wichtigste Ergebnis in Kurzfassung: Das erste Jahrzehnt sei das Jahrzehnt der euphorischen Modernisierung gewesen. Vor allem Frauen seien davongezogen, sie wollten Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Das zweite Jahrzehnt sei hingegen überraschend anders verlaufen: Die Zahl der Modernen ging drastisch zurück. Viele Männer wie Frauen seien nicht mehr gewillt, eine „bestimmte (genderpolitisch zugewiesene) Rolle spielen zu müssen“. Sie seien pragmatisch geworden und wollten nun selbst wählen und mit dem Partner aushandeln, wie sie ihr Leben gestalten, wie sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollen.

Diese Aussagen stützen sich auf umfangreiche empirische Daten. In den drei Erhebungen wurden die Einstellungen der Menschen zu bestimmten Sätzen abgefragt, die für ein traditionelles oder ein modernes Geschlechterrollenbild stehen. Als traditionell gelten zum Beispiel Test-Items wie „Die Frau soll für den Haushalt und die Kinder da sein, der Mann ist für den Beruf und die finanzielle Versorgung zuständig“ oder „Hausfrau zu sein ist für eine Frau genauso befriedigend wie eine Berufstätigkeit“.

Als moderne Rollenelemente wurden hingegen Sätze wie „Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein“ oder „Eine berufstätige Frau kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet“.


Vier Cluster. Anhand der Antworten wurden die Befragten einem von vier Clustern zugeordnet: Als traditionelle Typen gelten jene, die alle traditionellen Items akzeptieren und die modernen ablehnen. Genau umgekehrt ist es beim Gegenpol, bei den Modernen. Es gibt aber auch Mischtypen: Als Pragmatische werden jene bezeichnet, die beiden Gruppen von Items etwas abgewinnen können, als suchender Typ schließlich jene, deren Zustimmung sowohl bei traditionellen wie modernen Items sehr zurückhaltend ausfällt. Die zeitliche Entwicklung dieser Typen ist sehr aufschlussreich: Zwischen 1992 und 2002 wuchs der Anteil der modern eingestellten Frauen dramatisch. Auch jener der Männer stieg, aber weniger stark. „Frauen haben sich schneller entwickelt als Männer“, so die Forscher. Entsprechend rückläufig war die Gruppe der Traditionellen. Bei den Pragmatischen und Suchenden gab es kaum Verschiebungen.

Zwischen 2002 und 2012 kam es zu einer Richtungsänderung: Der Anteil der Modernen sank plötzlich stark. Es handle sich dabei aber laut Zulehner und Steinmair-Pösel um keine großflächige Entmodernisierung oder gar Retraditionalisierung: Denn die ehemals modern eingestellten Frauen wechselten in das Lager der Pragmatischen. Dasselbe galt auch für Männer – aber in geringerem Ausmaß, denn hier wurde auch die Gruppe der Traditionellen etwas größer. „Das Pragmatische steht für den Versuch, sich auf beiden Lebensfeldern zu halten: Sie wollen Kinder und Beruf. Frauen behalten dazu viele moderne Elemente und bauen in diese traditionelle Elemente ein“, lautet die Interpretation.

Dieser Schluss ergibt sich aus anderen Teilen des umfassenden Fragenkatalogs: Der Satz „Frauenemanzipation ist eine notwendige und gute Entwicklung“ findet ungebrochen steigende Zustimmung bei beiden Geschlechtern (von 46 auf 73 Prozent bei Frauen und von 30 auf 52 Prozent bei Männern). Allerdings nimmt gleichzeitig die Skepsis gegenüber dem Feminismus zu: Der Satz „Der Feminismus ist überholt“ wird von 33 Prozent der Frauen und von 46 Prozent der Männer bejaht. „Vor allem die jüngeren Frauen nehmen vom Feminismus Abstand“, so die Forscher.


Modernisierungsstress. Zur Erklärung wird die Wiener Philosophin Herta Nagl-Docekal zitiert: etwa weil das Auftreten des Feminismus als zu kämpferisch missbilligt werde, weil der Feminismus einen Identitätsdruck erzeuge, weil die „patriarchatskritischen Kategorien zu simplifizierend“ seien oder weil einflussreiche Kreise den Feminismus totsagen würden, weil sie zu einem „traditionellen geschlechterhierarchischen Lebensmuster“ zurückkehren wollten. Offenbar kommt es zu einer Entkopplung der Bilder „Frauenemanzipation“, „Feministin“ und „moderne Frau“ – und zwar insbesondere in der Gruppe der modern eingestellten Menschen. Der Satz „Eine moderne Frau zu sein bedeutet nicht unbedingt, eine Feministin zu sein“ wird von 70 Prozent der Frauen (und von 60 Prozent der Männer) bejaht.

Warum geschieht dies? Zulehner und Steinmair-Pösel bieten folgende Erklärung an: Die Modernisierung der Geschlechterrollen sei nicht nur fordernd für beide Partner, sondern teilweise auch überfordernd. Ein Beleg dafür: Dem Satz „Die neuen Geschlechterrollen sind anstrengender als die traditionellen“ stimmt mittlerweile jeder Zweite zu – bei beiden Geschlechtern und in allen Altersstufen. Tendenz steigend. Die Forscher sprechen von „Modernisierungsstress“, der sich auch durch eine Korrelationen mit den Antworten auf die Frage „Ich fühle mich körperlich bzw. seelisch sehr gesund“ nachweisen lasse.


Entlastung. Diese Faktoren zusammen liefern eine plausible Erklärung dafür, dass beide Geschlechter pragmatischer werden: Moderne Rollenanteile werden zwar weiterhin wertgeschätzt, aber mit entlastenden traditionellen Anteilen kombiniert. So kann offenbar der Anspruch der Modernisierung – dass Frauen nicht nur für die Familie zuständig sind und Männer nicht nur für den Beruf – verwirklicht werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2014)

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