„Natürlich gab es Zensur“

Helene Thimig und Gerhard Rühm, Ernst Meister und Kurt Sobotka, Hilde Sochor und Veit Relin: Sie alle machten im Wien der Besatzungszeit Theater im Auftrag der Sowjets oder der Amerikaner. Und manche auch im Auftrag beider.

Nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee Mitte April 1945 wurde der Theaterbetrieb bereits Ende April wieder aufgenommen. Zwei Monate später eröffnete das von der Österreichischen Hochschülerschaft initiierte Studio der Hochschulen/Studio in der Kolingasse, an dem die in den 1930er-Jahren geborene Generation zwischen Juni 1945 und 1950 erste Erfahrungen sammeln konnte.

Ab Ende 1950 boten auch zwei Besatzungsmächte neue Engagements, um ihren ideologischen Einfluss geltend zu machen. Für die Amerikaner und die Sowjets hatte das Theater unterschiedliche Bedeutung, die auch die gegensätzliche Auffassung beider Systeme widerspiegelte. Während Kunst und Kultur für die Sowjets ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft waren, hatten sie für die Amerikaner vor allem wirtschaftliche Bedeutung. So kümmerte sich Ernst Lothar, Theateragent der Kulturverwaltung des unmittelbar nach Kriegsende eingerichteten Information Service Branch (ISB), zunächst hauptsächlich um Lizenzierungsverfahren für amerikanische Theaterstücke, deren Aufführungen von der US-Armee genehmigt werden mussten. Dadurch ergab sich auch Einfluss auf den Spielplan der in den US-Zonen liegenden Theater, wobei manchmal sogar der Regisseur und die Hauptdarsteller vorgeschrieben wurden.

Die Sowjets hatten die Theaterzensur bereits 1945 an die Kulturabteilung der Stadt Wien abgegeben und mischten sich in die Belange der Theater „offiziell“ nicht mehr ein. So eröffnete das von der KPÖ finanzierte und von aus Zürich heimgekehrten Emigranten wie Wolfgang Heinz oder Karl Paryla geführte Neue Theater in der Scala in der Favoritenstraße am 16. September 1948 mit Johann Nestroy und zeigte bis zu seiner Schließung 1956 neben Klassikern und wenigen russischen Propagandastücken auch von denamerikanischen Kulturoffizieren ab Ende der 1940er-Jahre in unter amerikanischem Einfluss stehenden österreichischen Bühnen verbotene US-Autoren.

Im Kalten Krieg erhielt Theater für den ISB im Sinne der „psychologischen Offensive“ eine neue Bedeutung. In einem ehemals arisierten Kino in der Siebensterngasse wurde am 14. Oktober 1950 das Kosmostheater eröffnet. Das Haus unterstand offiziell der Kulturabteilung der amerikanischen Botschaft. Der als Kulturoffizier zurückgekehrte Emigrant Ernst Haeusserman sollte durch Gratisvorstellungen von Theater-, Film-, Musik- und Radioprogrammen ein positives Bild der amerikanischen Kultur und des American Way of Life vermitteln. Die Stücke durften aber keine sozialkritischen Ansätze enthalten, weshalb etwa „The Adding Machine“ von Elmer Rice, das bis 1947 noch als eines der besten Beispiele für modernes US-Theater in Österreich beworben wurde, oder Arthur Millers in New York als bestes Drama des Jahres ausgezeichnetes „All My Sons“ unerwünscht waren. Damit blieben thematisch neben Komödien und Musicals nur Familien- und Beziehungsdramen übrig.

Die Eröffnungsproduktion, „Jenseits des Horizonts“ von Eugene O'Neill, mit Lona Dubois, Toni Bukovics, Herbert Wochinz und Alexander Kerst floppte. Außerdem erregten die Gratisvorstellungen auch den Protest des österreichischen Theaterdirektorenverbandes. Als Kompromiss wurden im Kosmostheater ab Jänner 1951 statt abendfüllenden Dramen nur mehr Einakter, Kurzopern oder inszenierte Leseaufführungen präsentiert, die sich auch ideal für Übertragungen durch den Sender Rot-Weiß-Rot eigneten und damit zur Vergrößerung der Reichweite beitrugen. Nach Gründung des dem ISB unterstehenden USIS Wandertheaters absolvierte man in Kooperation mit dem Kosmostheater sehr erfolgreiche Gastspiele in Kleinstädten der westlichen Besatzungszonen.

Bis Juni 1952 lag die künstlerische Programmierung der deutschsprachigen Theaterproduktionen in den Händen der aus dem US-Exil zurückgekehrten Max-Reinhardt-Witwe Helene Thimig. Als Leiterin des Reinhardt-Seminars engagierte sie viele junge Seminaristen, von denen fast alle auch im Studio der Hochschulen mitgewirkt hatten. Im Kosmostheater finden sich im Frühjahr 1951 auf den Besetzungslisten unter anderem Bruno Dallansky, Lona Dubois, Alexander Kerst, Ernst Meister, Walter Langer, Herbert Wochinz und Peter Weihs. Maria Urban erinnert sich an die Tournee des USIS Wandertheaters, das vom 27. März bis 7. Juli 1951 mit „zwei Stücken, ,Unserer kleinen Stadt‘, da hat Lucie Neudecker die Emily gespielt, und dem ,Lied der Taube‘ mit Rudi Melichar und Vera Friedberg“ auf Tournee ging. Regieassistent von Helene Thimig war Edwin Zbonek, die Bühnenbilder stammten von Otto Niedermoser. „Die Thimig hat uns einen Brief mit auf die Reise gegeben, was wir alles beachten sollen und wie man miteinander umgeht auf der Tournee.“ So hatte die junge Schauspielerin im Vertrag auch folgendes Statut zu unterzeichnen: „Die Tournee ist ein amerikanisches Unternehmen, die Teilnehmer haben darauf zu sehen, dass in jeder Hinsicht das Ansehen der Besatzungsmacht gewahrt bleibt.“

Von Oktober 1951 bis Juni 1952 spielten Lucie Neudecker, Susi Peter, Luise Prasser, Brigitte Ratz, Bruno Dallansky, Walter Davy, Curd Jürgens oder Herbert Wochinz im Kosmostheater in ausgewählten Szenen von William Saroyans „Einmal im Leben“, William Audreys „Leuchtfeuer“ und „Meine Schwester Ellen“ von Jerome Chodorow und Joseph Fields. Im Ensemble des Wandertheaters, das im Juni und Juli 1952 unter anderem mit „Meine Schwester Ellen“ gastierte, findet sich neben Hilde Sochor auch Veit Relin: „Der große Karl Paryla engagierte mich an die Scala. Ein Theater von höchstem Niveau. Ich lernte auch Bert Brecht kennen und spielte bereits als zweite Rolle den Gigl in ,Mädl aus der Vorstadt‘ von Nestroy, aber von der Direktion bis zum Portier waren sie alle Kommunisten. Ich musste zum Beispiel am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, in der ersten Reihe winkend mitmarschieren. Das gefiel mir gar nicht, und eh ich mich versah, war ich beim amerikanischen Tourneetheater gelandet. Ich spielte als Partner von Helene Thimig die Hauptrolle in der ,Straße nach Cavarcere‘ von Harald Zusanek.“ Diese Produktion war das letzte Sprechstück der USIS Wanderbühne. Seit Herbst 1952 verantwortete Marcel Prawy die Aufführungen von Musikprogrammen,die ab 1953 mit Titeln wie „So singt Amerika“ auch im Josefssaal im 8. Bezirk präsentiert wurden. ImKosmostheater inszenierte Helene Thimig im März 1953 noch eine Leseaufführung von Thornton Wilders „Die Iden des März“ mit Fritz Kortner. Haeusserman wechselte als Direktor in die Josefstadt, unter seinem Nachfolger, Heinrich Krauss, wurde die Bühne zum Rundfunktheater, aus dem hauptsächlich Talenteshows und Kabarettsendungen übertragen wurden. Nach Abzug der Alliierten eröffnete die ursprüngliche Besitzerin wieder das „Kosmos Kino“.

Veit Relin war nicht der Einzige, der Erfahrungen mit beiden Weltanschauungen sammelte. Denn die im Kosmostheater engagierten Schauspieler Walter Langer, Luise Prasser oder Auguste Welten und der Komponist Gerhard Rühm finden sich auch auf den Besetzungslisten einer neuen Spielstätte. Das schlechte Image, das die Rote Armee in der Bevölkerung hatte, veranlasste schließlich auch die Sowjets zur Einrichtung von Sowjetischen Informationszentren (SIZ). Das erste wurde am 16. September 1950 im sogenannten Porr-Haus am Karlsplatz eröffnet.

Herbert Lederer, der hier mit Maxim Gorkis „Nachtasyl“ im Juni 1947 bei einem Gastspiel der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft sein Regiedebut gab, meint zum Namen des heute von der Technischen Universität genutzten Gebäudes: „Es gab kein Porr-Haus. Es war das Haus der Gewerkschaft der Lebensmittelarbeiter, die das von ihren Beiträgen gebaut haben. Natürlich sind sie im 38er-Jahr enteignet worden. Dann hat man einen Mieter gesucht, der recht viel Geld bezahlt, und die Firma Porr ist da hineingegangen. Und als die Sowjets gekommen sind, haben die dort das Sowjetische Informationszentrum eingerichtet, mit einemwunderschönen Saal unten, wo man wunderbar Theater spielen konnte. Und oben war alles Mögliche, da waren Vortragsräume und eine große Bibliothek. Da war die Porr schon wieder draußen.“

Das SIZ stand unter der Leitung von Major Smirnov und bot neben Arbeiter-Sinfoniekonzerten, Lesungen von Arbeiterdichtern oder einer Woche der Laienkunst auch österreichischen Künstlern die Möglichkeit, ihre Werke vorzustellen. 1951 wurde eine Theater- und Kabarettgruppe eingerichtet. Die Eröffnungsproduktion, Jura Soyfers „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“ am 10.März 1951, war das Regiedebut von Kurt Sobotka. Die „Österreichische Zeitung“ vermerkte dazu: „Das den Raumverhältnissen angepasste stilisierte Bühnenbild entwarf Gerhard Hruby, die mitreißende Vertonung der Songs komponierte Gerhard Rühm.“ Rühm, Mitglied der legendären Künstlervereinigung „Art Club“ und Mitbegründer der „Wiener Gruppe“ hat diese Songs „ganz bewusst ziemlich primitiv auf einfachste Begleitung und einfache Melodie komponiert, weil das die Schauspieler nachsingen mussten und die meisten Schauspieler ja entsetzlich unmusikalisch sind. Das ist so richtig im Viervierteltakt und im Dreivierteltakt. Bei manchen Theaterstücken sind ja Lieder drinnen – gereimte Zeilen, wie das bei Brecht üblich ist –, und da hatte ich freie Hand. Ich habe es ja wegen des Verdienens gemacht. Es gab relativ wenig, aber ich war froh, dass ich überhaupt das bekommen habe.“

Natürlich wurden auch Agitationsstücke wie „Geheimarchiv strategischer Dienst“ und „Begegnung an der Elbe“ von Tur/ Scheinin oder Konstantin Simonovs „Die russische Frage“ in der Regie von Kurt Sobotka gezeigt. Sobotka meint dazu heute: „Alle haben gesagt: Um Gottes willen, das ist Agitprop. Dass der Fritz Muliar dort gespielt hat, der Theodor Grädler dort gespielt hat, dass die alle dort gespielt haben, das war ihnen wurscht. Und dass man dort natürlich auch sehr rote Stücke gespielt hat, das war logisch. Aber wir haben sehr gutes Kabarett gemacht, das gar nichts mit Agitprop zu tun hatte. Ich war damals der Leiter des Kabaretts, das heißt, ich habe es dort aufgebaut, und da haben, vom Walter Langer angefangen bis zum Kurtl Mejstrik, viele Leute mitgespielt. Und wir haben dort Geld verdient, wir haben Theater spielen können. Das war uns wichtig. Natürlich gab es Zensur. Ich hatte einen Freund, der leider auch schon tot ist – Camillo Heger, der ist ein bekannter Widerstandskämpfer gewesen. Der war der österreichische Leiter, der mich sehr in Schutz genommen hat, von dem habe ich viel gelernt, und der hat sich immer dazwischengestellt.“

Die Kabarettgruppe „Die Nussknacker“ brachte 1952 die Programme „Nach sieben mageren Jahren“ von Wesp, das von Sobotka verfasste „Wir drehen uns im Kreis“, „Gegen den Wind gesprochen“ von Otto Müller oder „Scherz ist Trumpf“ von Wesp. Als Darsteller wirkten Fritz Grieb, Walter Langer, Kurt Mejstrik, Erna Perger, Otto Tausig oder Mario Turra mit, seine eigenen Kompositionen interpretierte Karl Heinz Füssl.

Herbert Lederer, der damals unter dem Namen Herbert Andl arbeitete, sah als erste Produktion Arthur Millers „Alle meine Söhne“: „Da ist dann einer ausgeschieden. Und da haben sie gesagt: Wenn du schon da bist, dann kannst du das gleich spielen. Der Hermann Laforet hat mitgespielt, der war im Volkstheater.“ Am 5. Dezember 1954 wurde Herbert Lederers Neuinterpretation des „Lechner Edi“ vorgestellt, in der Kurt Sobotka diesmal die Titelrolle übernommen und für die Karl Heinz Füssl die Musik komponiert hatte. Seine Inszenierung der Tschechow-Einakter „Der Bär“, „Jubiläum“ und „Heiratsantrag“ am 30. Jänner 1955 war die vorletzte Premiere im Porr-Haus, in dem am 9. April 1955 die letzte Theatervorstellung stattfand.

Der Abzug der Besatzungsmächte führte zur Schließung beider „Informationseinrichtungen“. Was die Alltagskultur betrifft, hatten die Amerikaner den Kampf um die Gunst der Menschen gewonnen. Die Theater konnten nach Wegfall ideologischer Filter nun auf alles zugreifen, was auch nur halbwegs künstlerischen Ansprüchen genügte. Ob die Autoren aus England, Frankreich, Russland oder den USA stammten, hatte keine Bedeutung mehr, auch wenn der Kalte Krieg nach wie vor die eine oder andere Präferenz nahelegte.

Und der Bühnennachwuchs? Herbert Lederer gründete gemeinsam mit seiner Frau, Erna Perger, das Einmanntheater „Theater am Schwedenplatz“. Veit Relin wurde ein viel beschäftigter Schauspieler und Regisseur, gründete 1960 das „Ateliertheater am Naschmarkt“. Herbert Wochinz initiierte nach dem Scheitern der Avantgardebühne „Theater am Fleischmarkt“ die Komödienspiele in Porcia und war lange Jahre Intendant des Stadttheaters Klagenfurt. Walter Davy wurde zum Fernsehregisseur und als „Schremser“ in der TV-Serie „Kottan ermittelt“ zur Kultfigur. Edwin Zbonek war Viennale-Direktor und wie auch Peter Weihs Leiter des „Theaters der Jugend“. Gerhard Rühm, dessen Arbeit – im Grenzbereich von Musik, Sprache, Gestik und Visuellem – in Österreich behindert wurde, übersiedelte schließlich nach Deutschland. Alexander Kerst und Bruno Dallansky wirkten an großen deutschsprachigen Bühnen und spielten in unzähligen Filmen. Lona Dubois, Walter Langer oder Rudolf Melichar wurden Ensemblemitglieder des Burgtheaters, Ernst Meister oder Hilde Sochor waren Ensemblemitglieder des Volkstheaters. Hier wirkte auch Maria Urban, die sich noch heute auf den Spielplänen des Theaters in der Josefstadt findet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2014)

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