Bitte diffamiert mir die Linke nicht!

Lange Zeit war für mich rechts richtig und links falsch, rechts gut und links böse. Warum ich mich heute eher nach links orientiere. Ein Bekenntnis.

Erst neulich ist es mir wieder aufgefallen (oder eingefallen?), als ich die paar Stufen zu der Trafik erklimmen wollte, um mir eine Zeitung zu holen. Es war nicht das erste Mal und wird auch ganz gewiss das letzte Mal nicht sein, dass ich mich über etwas ärgern muss, was den meisten meiner Mitmenschen keinen Grund zum Ärgernis geben dürfte. Genauer: etwa zwei Dritteln. Noch genauer: 66,6 Prozent. Das ist die Rate der Rechtshänder. Oder Rechtshänderinnen, um es gendergerecht auszudrücken. Ein Drittel der Menschheit lebt linkshändig.

Ich bin einer von ihnen. Notgedrungen freilich. Ich bin als Rechtshänder geboren, als, wie ich zu sagen pflege, als 150-prozentiger Rechtshänder. Für mich war es ungebräuchlich, unhandlich, fast unvorstellbar, auf die Rechte verzichten zu müssen, weil ich sie aus welchen Gründen immer nicht mehr verwenden könne. Für mich war rechts richtig und links falsch. Rechts gehen und rechts fahren war so selbstverständlich wie das Atmen – und nach Australien, wo ich mich umgewöhnen musste, bin ich ja erst in reifsten Jahren gekommen. Erst nachdem ich... aber das ist eine andere Geschichte.

Nicht ganz. Nein, das hat nichts mit Politik zu tun. Aber heute muss ich mich zwangsweise nach links orientieren, muss zwangsweise die linke Hand verwenden, weil ich die rechte nicht mehr gebrauchen kann. So wie eben auch das eine Drittel der Menschen, die Linkshänder sind – von Geburt aus. Dass es in Wahrheit viel mehr sind, dass die Menschheit sich zu fifty-fifty in Rechtshänder und Linkshänder teilt, wie ich höre, tut nichts. Viele sind ja in der Schule oder schon im Elternhaus umerzogen worden. Sie sollten, ist ihnen eingebläut worden, unbedingt die rechte Hand verwenden. Die rechte. Die schöne Hand.

Den Amerikanern ist es gleich. Rechtshänder und Linkshänder sind gottgegeben. Es wird von Natur aus, wirklich von Natur aus, kein Unterschied gemacht. Die Hälfte der Präsidenten ist rechts-, die andere linkshändig. Man kann es deutlich sehen, wenn sie im Oval Office vor der Kamera Papiere unterzeichnen. Ich beneide sie. Sie müssen sich nicht genieren, nicht die „schöne Hand“ zu verwenden. Sie sind es anders gewohnt – und niemand findet etwas dabei.

Für mich aber ist heute nur mehr die linke die „schöne“, die verwendbare. Deswegen habe ich mich ja jüngst wieder geärgert, vor der Trafik: Das Geländer, üblicherweise auch als Handlauf bezeichnet, war auf der rechten Seite. Auf der gebräuchlichen, wie es scheint. Auf der gewöhnlichen. Auf der normalen. Denn, wie gesagt, die überwiegende Mehrzahl der Menschen gebraucht die Rechte mehr als die Linke. Und auch das hat wieder nichts mit Politik zu tun.

Fast nichts. In Wahrheit mehr, als man glaubt – und da sind wir mittendrin in jenem Leben, das von der Politik nur schwer zu trennen ist. Im alltäglichen Leben, dessen Bezüge umso politischer sind, als das Leben länger wird. Nicht von der Demografie soll hier die Rede sein, aber davon, dass ich sogar an Politik erinnert werde, wenn ich die paar Stufen zur Trafik hinaufsteigen möchte, um mir eine Zeitung zu holen. Denn der Handlauf liegt, wie gesagt, rechts. Nur Neubauten, Gemeindebauten zumal, bieten auch unsereinem die Möglichkeit, sich anzuhalten. Links nämlich.

Nicht alles über einen Kamm scheren!

Hand aufs Herz: Ich musste nicht erst über eine Stiege klettern, um mich geistig – sagen wir genauer: soziophilosophisch – mit der Rechts-Links-Problematik auseinanderzusetzen. Dass rechts positiv sei und links negativ, wird seit Jahrtausenden behauptet, ohne dass bisher dafür ein schlüssiger Beweis geliefert worden wäre. Rechts ist sauber, links ist unsauber. Rechts ist gut, links ist böse. Und das, obgleich das Herz links schlägt?

Es ist in der Tat schwierig, sich mit all dieser Rechts-Links-Problematik zu beschäftigen, ohne gleich tief in die Politik zu tauchen. Diesbezügliche Relationen sind wohlfeil. Sie haben nicht zuletzt, ja zum Teil auch intensiv, mit der Sprache zu tun, und nicht nur mit der deutschen. Dass die Wörter „Recht“ und „rechts“ nichts miteinander zu tun haben, kann nur von Analphabeten behauptet werden. Und dass auch das Wort „richtig“ damit zusammenhängt, wird wohl auch von jenen bestätigt werden, die nicht überall Politisches schnuppern. Im Englischen besteht die Wortidentität zwischen „Right“ und „right“, also Recht und richtig. Ist es jetzt notwendig, auch noch das französische „Droit“ und „droit“ zu bemühen? Das spanische „derecha“? Die Sprache bietet, so betrachtet, eine Unmenge von Deutungsmöglichkeiten. Man soll sich richtig halten, sich aufrichten, geraderichten – alles das Hinweise, was richtig sei und was falsch.

Es liegt nahe, Jahrtausende (oder noch viel länger?) zurückzublicken. Irgendwo, irgendwann und irgendwie muss ja die Wurzel der „Handqualität“ zu finden sein. Gilt und galt die Linke als die falsche, als die unsaubere Hand? Weil man nach dem Stuhlgang die linke zur Säuberung verwendet hat? Hat die Diffamierung der linken – für mich unfreiwilligen Linkshänder ist es in der Tat eine Diffamierung – damit zu tun, dass die rechte mit der „klügeren“ Gehirnhälfte zu tun hat? Vielleicht ist es so zu erklären, dass man etwas, was man nicht beachtet, „links liegen lassen“ kann. Oder dass man, was man schnell und leicht erledigt, „mit der Linken“ tut. Dass man es „mit links“ bewerkstelligt.

Rechts ist also richtig, links ist falsch, könnte man meinen, würde die Realität nichts anderes zeigen. Geborene Linkshänder haben zum Beispiel, wie die Geschichte zeigt, mehr Chancen, sich zu Genies zu entwickeln. Wer weiß schon, dass Leonardo da Vinci ein Linkshänder war, dass Michelangelo die Sixtinische Kapelle mit der Linken verziert hat? Goethe war ein Linkshänder, Beethoven war einer. Rechts und links verdienen es, völlig unpolitisch gesehen zu werden – so schwer es auch fällt.

Denn es ist nicht leicht, zu Beginn des 21. Jahrhunderts – alles ist ja politisch zu verstehen – die Begriffe ihrer Nebenbedeutung zu entkleiden. Gerade bei „links“ und „rechts“ist solches fast unmöglich. War es freilich zu Beginn nicht. Zur Zeit der Französischen Revolution saßen die Adeligen in der Nationalversammlung rechts vom Präsidenten, die Vertreter des Bürgertums links. Mag sein, dass die politische Einteilung aus dieser Zeit stammt. Anno 1848 saßen in der Paulskirche die Verfechter des Sturzes der deutschen Fürstentümer links, die Freunde der Monarchie rechts. Das hat sich bis heute gehalten: Rechts heißt konservativ, und links ist gleichbedeutend mit liberal – oder?

Was heißt dann „linksliberal“? Dem Begriffsinhalt nach offenbar liberaler als liberal. Aber was ist das? Ähnlich könnte man bei dem Wort „rechtskonservativ“ herumdeuten. Das politische Wörterbuch ist in den vergangenen Jahren immer umfangreicher geworden. Rechts ist gestern, links ist morgen, sagen und schreiben viele. Und was ist heute? Es reizt zu einer Bestandsaufnahme.

Akzeptiert man eine, dann kommt man nicht umhin, von einer teilweisen Offensive der Rechten zu sprechen. Sie wird jedenfalls nicht nur von den Linken mit Sorge betrachtet. Aber was versteht man denn in diesem Fall unter den „Rechten“? Sind es die Alt- oder Neonazis, die Alt- oder Neofaschisten? Kann man alles, was als „rechts“ gilt oder gelten kann, über einen Kamm scheren?

Es liegt nahe, eine Anleihe bei jenen Gedenktagen zu nehmen, die von der neueren österreichischen Geschichte dem Jahr 2014 geboten werden. Nicht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs soll da die Rede sein. Er hat mit der Links-Rechts-Problematik relativ wenig zu tun. Umso mehr war dies am 12. Februar 1934 der Fall und wird es am 25. Juli 1934 der Fall sein.

Dass zum ersten Mal Spitzenvertreter derSPÖ und der ÖVP gemeinsam die Februar-Opfer ehrten, war ein Novum angesichts der Tatsache, dass die beiden Parteien noch bis vor Kurzem unterschiedliche Auffassungen von den Ereignissen hatten, die heute als „Bürgerkrieg“ bezeichnet werden. Deutlicherals anderswo gibt es da den Unterschied zwischen links und rechts, könnte man sagen. Was für die einen ein Putsch, war für die anderen Verteidigung – auch wenn heute die Auffassung Platz gewonnen hat, dass das Unrecht auf der Seite der Staatsgewalt zu suchen ist. Nicht ganz so wird über den Juli 1934 gedacht, obwohl Bundeskanzler Dollfuß von der einen Seite noch immer als Mordopfer der Nationalsozialisten geehrt wird, während die andere ihn als Mörder betrachtet, der durch die Verhängung des Standrechts den Galgen aktiviert hat.

Geschichtsbetrachtung ist eine Tochter der Zeit, kann man immer wieder sagen. Umso mehr gilt dies für die Zeitgeschichte. Das „Was wäre gewesen, wenn“ gilt als absolut unhistorisch. Was wäre gewesen, wenn das Bundesheer – es gab, wohlgemerkt, damals keine allgemeine Wehrpflicht, was die SPÖ dazu bewogen hat, ein Berufsheer viele Jahre lang vehement abzulehnen, bis sie dann vor der Volksbefragung 2013 eine gegenteilige Meinung vertrat –, was wäre also gewesen, wenn das Heer 1934 nicht auf Gemeindebauten geschossen hätte? Man hatte seinerzeit behauptet, diese seien in den Zwanzigerjahren nach Plänen errichtet worden, die eine leichte Verteidigung möglich gemacht hätten. Hatte man damals bereits damit gerechnet, dass es im „Roten Wien“ irgendwann zu bewaffneten Zusammenstößenmit einer politisch anders gefärbten Regierung kommen könnte?

Zeitgeschichte, aus der und in der Zeit betrachtet! Oder auch: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Oder noch direkter: Rechts und links, politisch gesehen. Allein, kann man dies unpolitisch betrachten, in diesem Land und in diesem Jahr, das an Gemeinplätzen so überreich ist? Einer davon ist die Behauptung, der Geist wehe links. Tatsächlichfällt es schwer, Zeithistoriker zu nennen, die nicht links oder jedenfalls halb links einzuordnen sind.

Journalisten fühlen sich meist links

Die überwiegende Mehrheit gilt zumindest als linksliberal – ohne Rücksicht auf ihre Qualität, versteht sich. Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte der Wiener Universität ist einer der besten und klügsten Kenner der österreichischen Historie. „Dollfuß hat Österreich getötet“, betitelte die „Wiener Zeitung“, das Organ der Republik, einen Artikel des Zeithistorikers, dessen Untertitel erklärte: „Im Rückblick erscheinen die taktischen Manöver und militärischen Aktionen der Regierung Dollfuß wie ein Lehrstück der politischen Selbstvernichtung.“ Emmerich Tálos wieder, der emeritierte Staatswissenschaftler, ebenso wissend und ebenso linksbündig, hat in seinem umfangreichen Band „Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938“ Thesen vertreten, die RobertKriechbaumer, Professor für Neuere österreichische Geschichte an der Uni Salzburg, als „auffällige Schieflage“ bezeichnete. Kriechbaumer vertrat in seinem Artikel, den er in der ÖCV-Zeitschrift veröffentlichte, der Auffassung des Cartellverbands entsprechend die gegenteilige Meinung.

Von der zeitgenössischen österreichischen Literatur ist Ähnliches zu vermelden, und Gleiches gilt von den Medien. Dass in Deutschland eine Untersuchung ergeben hat, die überwiegende Mehrheit der Journalisten und Journalistinnen fühle sich „links“ oder zumindest „grün“, passt ins Bild, das auch in Österreich gelten kann. Solches wird etwa (aber das ist ja nichts Neues) vom ORF behauptet. Bei den Arbeiterkammerwahlen 2009 hatte die Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter (FSG) bei den Fernsehleuten 49 Prozent der Stimmen errungen, die Grünen erreichten 15 Prozent, der ÖAAB rund 26 Prozent. Ähnlich war das Ergebnis beimHörfunk: FSG 43 Prozent, Grüne 23 Prozent, ÖAAB 16 Prozent.

Eine linke Mehrheit also? Lassen wir sie links liegen. Erwägungen solcher Art sind linkisch. Es läge die Versuchung nahe, sie zu linken. Noch einmal: Die Geschichte ist eine Tochter der Zeit. Ob diese schön ist oder hässlich, wird man erst viel später beurteilen können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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