Reden ist Gold

Die einzige Strategie, die Angst zu vertreiben, ist ihr standzuhalten. Die Wahrheit beim Namen genannt verliert ihre Bedrohlichkeit.

Über meine sexuelle Identität als schwuler Mann habe ich lang geschwiegen. Aus Angst vor den Reaktionen, aus Angst vor mir selbst, aus Angst vor der Angst. Bis die Angst mein Leben bestimmt hat. Kein Blick und keine Bewegung waren mehr möglich, ohne das Gefühl, mich zu verraten. Verheimlichen war mein Lebensinhalt, Angst mein Verfolger. Ich bin gerannt, bis ich keine Kraft mehr hatte, und trotzdem nirgends angekommen. Ein ungelebtes und heimatloses Leben.

Aber das ist vorbei. Heute habe ich keine Angst mehr. Ich habe ausgesprochen, was ich verschwiegen habe, und zu dem gemacht, was es ist: die Wahrheit. Ich bin der geworden, der ich bin. Für Freunde, Mitarbeiter, für alle Menschen, denen ich begegne. Der erste Schritt in eine größere Welt war gleichzeitig der größte Schritt zu mir selbst. Meine dunkelsten Ängste sind mit einem Schlag verschwunden. Die Konfrontation mit mir selbst war wie eine Explosion: Meine Ängste waren Nitro, mein Ich das Glycerin. Überlebt hat nur die Wahrheit. Freiheit nach 27 Jahren.

Im Dezember 2013. Schon lange davor hatte die Wahrheit Sprünge in die Wand getrieben, aber die Fassade hat immer gehalten. Viel zu mächtig waren die Angstmacher. Getarnt als religiöse Tugenden und Werte, Parteilinien und Traditionen haben sie alle nur ein Ziel: den anderen klein zu halten. Hinter scheinbar grundsoliden Ansichten verstecken sich aber die eigenen Minderwertigkeitsgefühle. Die Abnormalität des anderen bestätigt die eigene Normalität. Die Solidarisierung gegenüber einem vermeintlich schwachen Gegner hilft, die eigenen Schwächegefühle zu überdecken. Warum soll einer dürfen, was sich andere niemals gestatten? Die eigene Wahrheit wird zum lebenden Vorwurf für das Unleben anderer. Verführerisch wie ein vergifteter Apfel kommt auch die moderne Form der Intoleranz daher. Es ist die aggressive Gleichgültigkeit, die in allen möglichen Variationen auftaucht. Zum Beispiel: „Mir doch egal, mit wem er ins Bett geht!“ Aber darum geht es nicht.


Tür zur Persönlichkeit. Homosexualität hat nicht in erster Linie mit Sex zu tun, sondern mit Identität. Mit dem Aussprechen der Wahrheit öffnet sich nicht automatisch die Tür zum Schlafzimmer, wohl aber zur Persönlichkeit. Es ist kein Akt der Aufdringlichkeit. Es ist ein Schritt zur eigenen Glaubwürdigkeit. Leben verlangt nach Wahrheit. Auch das Berufsleben. Und Vertrauen ist die Basis. In einem Klima des Verschweigens kann es das nie geben. Ein unsichtbarer Schleier des Misstrauens wird jede aufrichtige Begegnung verhindern. Es regiert der Verdacht. Unbewusst etabliert sich eine Kultur des Verheimlichens und durchzieht alle Bereiche des Berufslebens. Die gesamte Energie wird in kryptische Antworten investiert, nur um ja keine Auskunft über das Privatleben geben zu müssen. Je öfter gefragt wird, desto bedrohlicher wird das Unausgesprochene. Was mit Lügen beginnt, endet mit Schweigen. Bis eines Tages niemand mehr fragt. Und all das nur, weil aus einem „Ich bin“ ein „Ich sollte sein“ wurde. Ein Leben nach den Vorstellungen anderer.

Die einzige Strategie, die Angst zu vertreiben, ist ihr standzuhalten. Die Wahrheit, beim Namen genannt, verliert ihre Bedrohlichkeit. Sie befreit und gibt Luft zum Atmen. Wenn Reden Silber und Schweigen Gold ist, dann hat die Angst gewonnen. Seit 6. Dezember 2013 weiß ich: Schweigen war für mich kaum Silber. Für mich ist Reden Gold.

Zur Person

Peter Fässlacher ist Sendungsverantwortlicher und Moderator der täglichen Kultursendung „Kultur heute“ auf ORF III und entwickelte die Büchersendung „erLesen“.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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