Empathie: Stresstest der Geschlechter

Streitendes Paar
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Psychosoziale Stressreaktionen können "gegendert" werden. Frauen und Männer sind bei Stress unterschiedlich empathisch.

Wer kennt diese Situation nicht: Ein Paar leidet unter Arbeitsstress, sie sucht soziale Unterstützung, während er sich mehr und mehr zurückzieht. Ob Frauen und Männer auf psychosozialen Stress mit unterschiedlichen Verhaltensweisen reagieren, untersuchte ein Team rund um den Neurowissenschaftler und Psychologen Claus Lamm von der Uni Wien gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Freiburg und der Scuola Internationale Superiore di Studi Avanzati in Triest.

„Stress ist ein lebensnotwendiger psychobiologischer Mechanismus, der im Normalfall eine positive Funktion hat, nämlich den Organismus in belastenden Situationen zu mobilisieren, sodass der Stressauslöser bewältigt wird. Uns hat interessiert, wie sich Stress auf das Sozialverhalten und insbesondere auf die Empathie und die Perspektivenübernahme der Menschen auswirkt“, erklärt Claus Lamm die Beweggründe für die Studie. Die Ausgangshypothese der Wissenschaftler am Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden war, dass Personen unter psychosozialem Stress aufgrund der Schutzfunktion des Stressmechanismus egozentrischer agieren. Dadurch nehmen die Empathiefähigkeit und die Fähigkeit der Perspektivenübernahme ab. Die Forschungsergebnisse kurz zusammengefasst: Bei Männern stimmte diese Hypothese, bei Frauen hingegen steigerte akuter psychosozialer Stress die sozialen Fähigkeiten und die Fähigkeit, sich akkurat in die Lage anderer Personen hineinzuversetzen.

Belastungstest im Labor.
Dazu wurden 40 Frauen und 40 Männer einer als belastend eingestuften Situation im Labor ausgesetzt: Der sogenannte Trierer Stresstest wird seit 1993 für derartige Verhaltensexperimente eingesetzt. Er besteht aus Prozessen, die von Menschen als stressig erlebt werden: Die Versuchsteilnehmer müssen zuerst bis zu fünf Minuten vor einer Jury stehend zu einem vorgegebenen Thema frei sprechen. Dabei werden sie gefilmt und von der Jury kritisch bewertet. Danach müssen sie von der Zahl 1022 in Dreizehnerschritten hinunterzählen. Passiert ein Fehler, müssen sie wieder von vorn beginnen. „Öffentliches Sprechen ist ein ausgezeichneter Stressor“, so der Wiener Neurowissenschaftler. „Damit kann die Realität im Labor sehr gut abgebildet werden.“

Cortisol und Pulsfrequenz.
Als objektive Faktoren für eine Stressreaktion wurden einerseits der Gehalt an Cortisol, das von der Nebennierenrinde unter der Einwirkung von Stress vermehrt ausgeschüttet wird und quasi als „das“ Stresshormon bezeichnet werden kann, und andererseits die Pulsfrequenz gemessen. Zwischen den beiden Stresssituationen – dem öffentlichen Sprechen und der komplizierten Rechenoperation – wurden Aufgaben durchgeführt, um die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Emotionen und Gedanken zu ermitteln – eine zentrale Voraussetzung dafür, sein Gegenüber empathisch richtig wahrzunehmen.

„Aus Vorstudien wissen wir, dass das eigene Befinden die empathische Bewertung der Emotionen anderer beeinflusst.“ Sind wir fröhlich, und die Person uns gegenüber ist traurig, werden wir sie als weniger traurig einschätzen, als dann, wenn wir selbst traurig oder in einer negativen Stimmungslage sind. Für die Studie wurden die Personen an der Hand mit angenehmen und unangenehmen Objekten berührt: etwa mit Spielzeugschleim, während ihnen gleichzeitig das Foto einer Schnecke präsentiert wurde. Dadurch wurden negative Gefühle ausgelöst. In diesem Gefühlszustand mussten sie dann die Emotionen anderer Personen mittels Touchscreen auf einer vertikalen Skala einordnen.

Das Erstaunliche: Die Bewertungen der Männer und Frauen fielen unterschiedlich aus. Den Männern kamen ihre eigenen Gefühle in die Quere. Sie zeigten eine verminderte Fähigkeit zur Unterscheidung ihrer Emotionen von denen anderer Personen und somit eine höhere Egozentrizität. Ihre Verhaltensmuster deuten auf die klassischen Kampf- oder Fluchtreaktionen hin. Frauen hingegen wurden durch ihre eigenen Emotionen unter Stress weniger stark beeinflusst. Sie konnten ihre eigenen Gefühle sehr gut von denen der anderen unterscheiden, zeigten ein stärkeres Einfühlungsvermögen und reagierten daher auf andere Personen empathischer.

Hormon bei Wehen.
„Es stellt sich nun die Frage, durch welche Faktoren die entgegengesetzten Effekte bei den Geschlechtern bedingt sind“, denkt Claus Lamm schon weiter. „Neben möglichen erziehungsbedingten und kulturellen Einflüssen müssen auch biologische Erklärungen berücksichtigt werden.“ Im Blickpunkt der Forscher steht dabei das Hormon Oxytocin. Dieses ist nicht nur bei der Frau für die Wehen beim Geburtsvorgang verantwortlich, sondern beeinflusst beim Menschen auch ganz allgemein soziale Interaktionen. Frauen zeigen unter Stress eine höhere Oxytocinausschüttung als Männer. „Das wäre ein Erklärungsansatz für die unterschiedliche Stressreaktion der Geschlechter“, so Lamm. Um das zu überprüfen, arbeitet er mit seinem Forscherteam nun an einer Folgestudie.

Psychologie

Die Sozialen Neurowissenschaften verbinden biologische und soziale Forschungsansätze. Claus Lamm untersucht in seiner Arbeit die neuronalen und biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens.

Als objektive Faktoren für eine Stressreaktion wurden in der aktuellen Studie der Gehalt des Stresshormons Cortisol und die Pulsfrequenz gemessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2014)

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