Mariahilf in Hollywood

„Man kann die alte Heimat besuchen. Aber mehr kann man nicht.“ Theo Bikel, Hollywoodstar und Mitbegründer der Folkmusikbewegung, über Widerstand, Wien, Israel und warum man als Flüchtling überall zu Hause ist.

Nur wenige Künstler haben eine so lange Karriere: Die von Theo Bikel dauert jetzt bereits 70 Jahre. Der Schauspieler, Sänger und politische Aktivist hat im Lauf seines langen Lebens unzählige Bühnen-, Film- und Fernsehrollen gespielt. Er spielte am Broadway den Baron Trapp in „The Sound of Music“ und den Tewje in dem Musical „Anatevka“ und in vielen Hollywoodproduktionen. Für „Flucht in Ketten“ von Stanley Kramer erhielt er eine Oscar-Nominierung. Weltbekannt wurde er als Sänger. Bikel gilt als einer der Gründer der Folkmusikbewegung und als Pate der Wiedergeburt des jiddischen Liedes nach dem Krieg. 1924 in Wien geboren und nach Herzl „Theodor“ genannt, flüchtete Bikel 1938 mit seinen Eltern nach Palästina. Von dort ging er 1946 nach London, 1954 in die USA. Am 2. Mai 2014 feiert Theo Bikel seinen 90. Geburtstag.


Theo Bikel, wann begann bei Ihnen das Interesse für jüdische Musik?

Es waren Lieder, die mein Vater mich gelehrt hat und mit mir gesungen hat. Manche Sonntage sind wir im Wienerwald herumspaziert und haben gesungen – nicht nur auf Jiddisch, auch auf Hebräisch, Ukrainisch, alle möglichen Lieder. Später erst wurde mir bewusst, dass es Volkslieder waren.

Nach dem Schock, den die Schoah ausgelöst hat, war Jiddisch zu singen alles andere als populär. Sie aber hatten bald internationalen Erfolg damit.

Ich habe in Amerika angefangen, Konzerte zu geben, in denen ich vielsprachig gesungen habe. Darunter auch viele jiddische Lieder. Und plötzlich waren sich die Leute bewusst, dass Jiddisch etwas ist, was ihnen gefehlt hat. Für die Juden war das eine Welt, die ihnen entronnen war, die Welt der Großväter. Und wenn sie amerikanische Juden waren, kamen die Großväter noch aus dem alten Europa. Aber die Söhne und Töchter wollten so schnell wie möglich von diesen komisch gekleideten und komisch redenden Menschen weg. Sie sind so schnell wie möglich ganz amerikanisch geworden und haben dadurch eine Sprache, ein Milieu und eine eigene Neigung ihren Kindern eigentlich gestohlen. Und ich habe genau das Umgekehrte gemacht. Ich habe den jungen Menschen gezeigt, dass sie aus einer Welt stammen, die sie kennen sollten. Und dann viele Briefe bekommen: Warum haben mir meine Eltern diese Lieder nie gesungen? Sie haben sie doch gekannt! Dafür gab es viele Gründe, psychologische, demografische.

Sie haben etwas in Bewegung gesetzt, was manspäter die „New Klezmer Music“ nannte: das Revival der jüdischen Volksmusik. Klezmer ist heute Weltmusik, die weit über ihren Ursprung und auch über ihre ursprünglichen Interpreten hinausgewachsen ist. Begonnen hat das Revival mit jungen amerikanischen Juden in den Siebzigerjahren. Ich habe kürzlich mit Frank London gesprochen, dem Bandleader der Klezmatics, der mir gesagt hat: „Theo ist ja unser Pate, er war ein Türöffner.“ War abzusehen, dass so eine Bewegung entsteht?

Nein. Man fängt an, singt einfache, schöne, interessante Lieder. Und plötzlich werden die Leute darauf aufmerksam, dass das eine Welt beschreibt. Es ist nicht nur eine schöne Melodie, sondern es stecken Geschichten darin. Tragödie. Komödie. Bei mir ist jedes Lied eine kleine Version von einem Theaterstück, ernst oder heiter. Es nützt auch, dass bei mir der Schauspieler dem Sänger hilft, die Interpretation der Lieder hervorzubringen als Geschichten, als Erzähler. Vielleicht bin ich auch ein Lehrer. Aber: Ich bin am Anfang und am Ende ein Sänger.

Sie haben mitten im Kalten Krieg auch Platten mit alten und neuen russischen Liedern herausgebracht. Darunter „Oj tumani“, ein populäres Partisanenlied, das die Russen bis heute zum Gedenken an das Kriegsende am 8. Mai singen. Sie haben auch jüdische Partisanenlieder gesungen, zu einer Zeit, als die Leute sich gar nicht bewusst waren, dass es nicht nur eine jüdische Opfergeschichte gibt, sondern auch eine Widerstandsgeschichte.


Ich habe mich immer gewehrt, Juden nur als Opfer anzusehen. Juden waren natürlich Opfer, aber sie waren auch Kämpfer. Sie haben gekämpft, sie sind umgekommen als Kämpfer, sie haben gesungen als Kämpfer.

Dass die Russen, darunter auch viele Juden, hinter den deutschen Linien militanten Widerstand geleistet haben, damit tun sich viele Österreicher und Deutsche bis heute schwer. Bis vor Kurzem galt weithin die Nazidiktion, dass die Partisanen Banditen gewesen seien.

Und wenn man von Partisanen redet, dann redet man von Kommunisten.

So ist es. Hat man Sie nicht auch in die Nähe von Kommunisten gestellt, mit dieser Musik? Ein Mann mit Ihrer politischen Färbung hätte doch eigentlich in den Fünfzigerjahren, als Sie nach Amerika gegangen sind, auf die Schwarze Liste kommen können.


Selbstverständlich. Meine engsten Freunde waren auf der Schwarzen Liste. Aber ich habe bis 1954 in England gelebt. Als ich dann nach Amerika kam, war die Schwarze Liste schon fast am Ende; als man mich nicht daraufgesetzt hat, war ich ein bissel beleidigt.

Niemand konnte vorhersehen, dass kurz danach in Amerika eine Folkmusikbewegung begonnen hat.

Plötzlich hat auf jeder Ecke einer Gitarre gespielt, und gut gespielt, und wir, Pete Seeger, George Wein und ich, haben beschlossen, das Newport Folk Festival zu gründen. Und es war uns wichtig, dass jeder, von Joan Baez bis zu einem blinden Blues-Sänger, 54 Dollar bekommt. Und wenn Geld überbleibt, dass man das alles dem Felde widmet. Das heißt, wir haben Instrumente für Leute gekauft, die sich das nicht leisten konnten, wir haben für Folkloristen Bandmaschinen gekauft, damit sie für ihren Research ins Feld gehen können. Wir haben das weiter verbreitet und dann kleine Festivals gegründet, das „Fiddlers Festival“ und „Cajun“ in New Orleans.


Gleichzeitig begann Ihre politische Aktivität in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Warum dieses Engagement? Hat das mit Ihrer Kindheit in Wien zu tun?


Genau, es hat tatsächlich damit zu tun, nurdamit. Ich war 13 Jahre alt, als die Nazis kamen. Viele Menschen haben nicht mitgemacht. Nachbarn. Aber sie haben auch nicht die Fenster und Türen aufgemacht und gesagt, das muss – muss! – nicht geschehen. Keiner hat gesagt: Stopp! Zu jener Zeit war ich zu jung, und ich konnte es noch nicht formulieren, aber später war mir klar, dass ich mich nie in die Position dieser netten Menschen, dieser netten Nachbarn, finden will, wo ich sagen könnte, wenn ich ein Unrecht sehe, das ist nicht meins. Nicht mein Kampf, nicht mein Gefecht. Es ist immer mein Gefecht, immer mein Kampf. Und das Opfer ist immer ein Jude. Der kann ein Schwarzer sein, der kann ein Homosexueller sein – wenn er ein Opfer ist, dann ist er in meinem Gehirn ein Jude. Und daher bin ich engagiert und war sehr engagiert in den Fünfziger- und Sechzigerjahren.


Sind Sie verhaftet worden?


Ja, man hat mich ins Gefängnis gesetzt, in Alabama. War nicht die beste Nacht meines Lebens. Manche meiner jüdischen Freunde fragten mich: Warum bist du so tätig? Nur wenn man Juden schlägt, solltest du tätig sein! Darauf habe ich gesagt: Du verstehst nicht. Das sind alles Juden.



Wie ist es heute für Sie, durch Wien zu fahren?


Bissel schwer! Ich habe auf der Mariahilfer Straße gewohnt, und man kann nicht durchfahren... Schauen Sie, man kann die alte Heimat besuchen. Aber mehr kann man nicht. Man kann nicht zurückkommen, man kann nicht zurückgreifen, man ist nie wieder zu Hause. Ich bin hier gerne, ich habe hier gute Freunde, aber es ist mir fremd geworden. Die Sprache ist mir wichtig, aber was Sehnsucht oder Heimweh beträgt: Seit der Zeit, als ich wegmusste, habe ich mich daran gewöhnt, niemals an Geografie festzuhalten. Das Wo ist mir überhaupt nicht so wichtig wie das Warum.
Empfinden Sie sich immer noch als flüchtig?

Ein Flüchtling ist nirgendwo zu Hause. Ich habe acht Jahre in England gelebt, und mir wurde ganz klar, dass meine Nachbarn auf mich schauten und wussten, der Kerl kann vielleicht einen britischen Pass haben, aber englisch ist er nicht. Das hat nicht nur eine negative Seite. Als Flüchtling bist du nirgends zu Hause, aber du bist auch überall zu Hause. So wie die Römer gesagt haben: Ubi bene ibi patria. Wo es gut ist, ist Heimat. An vielen Orten war mir gut. In Palästina, in einer Gesellschaft, die linksgerichtet und Kibbuz-orientiert war, in England, wo ich Theater gelernt habe, in Amerika, wo das Versprechen größer ist als das Einlösen.

Haben Sie sich hier in Wien nie als zugehörig erlebt?

Ich habe die gleichen Rechte gehabt, aber es war eine parallele Existenz. In meiner Klasse im Amerlinggymnasium waren 40 Buben. Zehn von ihnen waren Juden. Ich kann mich bis heute an jeden einzelnen Juden erinnern, mit Namen und Gesicht. An keinen einzigen von den Nichtjuden. Das hat auch seinen Grund: Wir waren nie bei denen eingeladen, die waren nie bei uns eingeladen. Wir wussten, wir leben nicht zusammen, sondern nebeneinander.

Aber bis 1934 war hier das Rote Wien. Haben Sie noch Erinnerungen daran?

An den Ersten Mai, sicher! Da haben die Zionisten eine Fahne gehabt, blauweiß und rot.

Das heißt, die Zionisten sind am Ersten Mai mit den Sozialdemokraten gegangen? Welche Gruppe war das? Poale Zion?

Poale Zion.

War Ihr Vater ein Funktionär von Poale Zion?

Ja. Das hat uns das Leben gerettet. Wir versuchten, als die Nazis kamen, überall hinzugehen. Mein Vater ist von einer Botschaft in die andere gelaufen. Die Briten haben beschlossen, eine Anzahl Zertifikate für Palästina zu geben, und es der Israelitischen Kultusgemeinde überlassen, sie zu verteilen. Die Kultusgemeinde hat verständlicherweise gesagt, geben wir die Zertifikate nur den Menschen, die in der zionistischen Bewegung tätig waren. Und Poale Zion war eine jüdische Arbeiterpartei.

Sie sind also in einer klassischen sozialistischen Tradition aufgewachsen.

Ja. Die hab ich noch immer. Nicht unkritisch. Insbesondere – mir gefällt gar nicht, was mit Israel passiert ist. Wenn ich das kritisiere, wirft man mir vor, dass ich gegen Israel bin. Das ist ja gar nicht wahr! Wenn man kritisiert,liebt man Israel mehr, nicht weniger. Ich will, es soll ein besseres Israel sein, erpicht auf das Menschenrecht. Man muss sich erinnern, wie es geschrieben steht: Erinnere dich, dass du einmal Sklave warst in Ägypten.

Sie haben noch diese Welt im Kibbuz erlebt, in der es kein Privateigentum gab.

Es war tatsächlich ein wunderbares Experiment, der Traum von einer sozialistischen Wirklichkeit. Bis heute gibt es übrigens nur ein Grundgesetz in Israel, und das ist die Deklaration der Unabhängigkeit als Staat. Und in dem steht die Gleichberechtigung aller, die hier leben. Darunter 20 Prozent Nichtjuden, Araber, heutzutage sind es noch mehr.

Der Schriftsteller Amos Oz hat mir einmal gesagt: „Wir sind zwei Familien unter einem Dach, die sich nicht vertragen, aber wir müssen dieses Haus teilen.“

Ja, wir müssen das Haus teilen. Man muss sich vor Augen halten, dass wir miteinander verbunden sind und nicht loskommen können. Ich habe in einem wunderbaren Film gespielt, der hieß „Flucht in Ketten“. Zwei Gefangene, die aneinandergekettet waren, ein Schwarzer und ein Weißer, die einander nicht ausstehen konnten. Aber sie wussten, dass sie zusammen rennen mussten, um zusammen zu überleben. So ist das mit uns und den Arabern. Wir brauchen keine Deklarationen der großen Liebe zueinander. Das wäre schön, ist aber nicht nötig.


Ein Traum der Linken war immer, eine bessere Welt zurückzulassen als die, die man vorgefunden hat. Ist die Welt besser geworden in Ihrer Lebenszeit?

Im engeren Sinne ja, im weiteren Sinne zweifelhaft. Im engeren Sinne... Als ich im Gefängnis war in Alabama, war es geteilt in einen weißen Teil und einen schwarzen Teil. Und in der Nacht habe ich von einem Land geträumt, in dem die Gefängnisse in Amerika nicht mehr separiert werden. Ich habe nicht träumen können, dass ein schwarzer Präsident im Weißen Haus sitzt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2014)

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