Armut In Weissrussland: Menschliches Strandgut bei den guten Schwestern von Pinsk

Im Reich des Alexander Lukaschenko muss sich das Rote Kreuz um immer mehr Menschen kümmern, die durch das zunehmend löchrige Sozialnetz fallen.

G
eboren ist sie in Litauen. Das Schicksal verschlug sie nach Aserbaidschan, wo sie heiratete. Dort erlebte sie die Spätphase der Sowjetunion, die blutigen ethnischen Tumulte, die letzten Zuckungen des kommunistischen Herrschaftssystems. Nach dem Tod ihres Mannes wollte sie zurück nach Litauen, blieb in Weißrussland hängen, war hier nach dem Kollaps der UdSSR aber plötzlich staatenlos.

Ein Schlaganfall machte sie endgültig zu menschlichem Strandgut. Und gäbe es nicht die guten Schwestern von Pinsk, die Mitarbeiterinnen des Rotkreuz-Pflegeheimes im Zentrum dieser verschlafenen Stadt im Süden Weißrusslands, die schwer kranke Frau wäre längst nicht mehr auf dieser Welt. Jetzt sitzt sie auf ihrem Bett, als die Leiterin des Pflegeheims ihre traurige Lebensgeschichte erzählt, schaut dankbar wie ein kleines Kind zu ihr auf, als diese ihr über den Kopf streichelt.

Die Pflegeheimleiterin erzählt noch 17 andere solcher trauriger Lebensgeschichten. Ihre Patienten gehören zu den Ärmsten der Armen im ohnehin verarmten Weißrussland. Die meisten von ihnen sind schon betagt, gelähmt, ans Bett gefesselt, ohne Angehörige, die sich um sie kümmern. Auch ein junger, seit einem Unfall querschnittgelähmter Mann liegt hier. Ein staatliches Krankenhaus hatte ihn brutal vor die Tür gesetzt, weil er als hoffnungsloser Fall galt. Auch er menschliches Strandgut, das die guten Schwestern von Pinsk aufgelesen haben und jetzt im Pflegheim - so gut es eben geht - betreuen.

Es geht eher schlecht als gut. Der weißrussische Staat, wegen des exzentrischen Präsidenten Alexander Lukaschenko international isoliert, hat ohnedies nicht viel zu verteilen, muss immer mehr sparen - auch, weil viele Finanzmittel in sinnlose Prestigeprojekte des Staatschefs fließen. Und gespart wird im sozialen Bereich, in der Gesundheitsversorgung, in der Alten- und Krankenpflege.

So erhielten die Pflegeschwestern von Pinsk 2003 plötzlich keine Gehaltszahlungen mehr - das werden die vom Roten Kreuz schon regeln, war wohl die Überlegung der Minsker Bürokraten.

Und so wächst das Heer der Armen, Verelendeten, Vereinsamten in Weißrussland unaufhörlich. Nach Einschätzung der Internationalen Föderation des Roten Kreuzes leben bereits über 30 Prozent der weißrussischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze - das ist zwanzig Mal mehr als noch zu Sowjetzeiten.

In Lukaschenkos "blitzsauberer" Vorzeige-Metropole Minsk ist das nicht erkennbar. "Die Armut sieht man nicht, die versteckt sich hinter den Fassaden der Plattenbauten", erklärt eine Sozialarbeiterin. Die Armen, ergänzt Stefan Seebacher, Bludenzer Arzt und für die Internationale Föderation des Roten Kreuzes für Weißrussland, die Ukraine und Moldawien zuständig, das sind heute in diesen postsowjetischen Staaten die Pensionisten, Kranken, Arbeitslosen und die mehrköpfigen Familien.

Wie ein Strudel reißt die Armut die Menschen immer tiefer in den Abgrund und greift auf immer größere Schichten über. Armut treibt junge Leute ohne Zukunftsperspektiven in den Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch ist in Weißrussland ohnedies ein Dauerproblem. Und Probleme, die das Land in den letzten Jahrzehnten kaum gekannt beziehungsweise nie offen zugegeben hat, drohen, in regelrechte Seuchen auszuarten - vor allem HIV/Aids: 5000 sind offiziell als HIV-positiv registriert, die Dunkelziffer wird bereits auf bis zu zehn Mal soviel geschätzt.

Aids-Kranke sind in der weißrussischen Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert. "Und gerade dadurch, dass der Staat das Drogenproblem nicht als solches anerkennen will, ufert Aids aus", sagt Seebacher: "Wenn ein Staat nicht die richtigen Gegenmaßnahmen ergreift, weil er das Problem nicht sehen will, bricht Aids aus Risiko-Gruppen aus und erfasst breitere Bevölkerungsgruppen."

Das Rote Kreuz schickt Studentinnen in die weißrussischen Schulen, um die Heranwachsenden über die Gefahren von Aids aufzuklären. Drogenabhängige, die verschreckt und gesellschaftlich isoliert in öden Dörfern vegetieren, werden mit Nadeln und Kondomen versorgt. Vielleicht nicht viel, um einer schwer kranken Gesellschaft zu helfen. Aber wenigstens etwas.

Spendenkonto: Österreichisches Rotes Kreuz, PSK-Konto 2.345.000 Kennwort: Osteuropa

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