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Gedenkkultur: Zwei Orte namens Oradour

Erinnerung an Oradour in Schwaz. 
Erinnerung an Oradour in Schwaz. Larcher
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Zwei Orte des Verbrechens: ein französisches Märtyrerdorf und ein Zwangsarbeiterlager im Tiroler Schwaz. Über Erinnerungsorte heute. 

Mossul im Irak, Aleppo in Syrien, Mariupol in der Ukraine: Sie wurden durch Kriege zu Geisterstädten. Ihre Ruinen nehmen heute einen zentralen Platz als Metaphern für geschundene Völker ein. Sie lösten die Bilder von Schlachtfeldern aus den früheren Jahrhunderten ab. Seit dem Ersten Weltkrieg wurden Ruinen in der Bildsprache ein wesentliches Motiv bei der Darstellung bewaffneter Konflikte. Die Fotos gewannen den Status von Ikonen und wurden gleichzeitig Beweisstücke: Seht her, wie barbarisch Menschen im totalen Krieg gegeneinander vorgehen. In der Propaganda war dies natürlich der andere, der Feind. Die brennende Kathedrale von Reims setzten die Franzosen 1914 als Sinnbild für die Barbarei der Deutschen ein. Trümmer wurden politisch vereinnahmt und bewusst liegen gelassen.

Auch die Ruinen des französischen Dorfes Oradour-sur-Glane in der Nähe von Limoges wurden nach dem Krieg zum historischen Denkmal erklärt und blieben als Mahn- und Gedenkstätte bis heute erhalten. Am 10. Juni 1944 töteten hier Angehörige der SS-Division „Das Reich“ 642 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Man sperrte sie in die Dorfkirche ein, die daraufhin in Brand gesetzt wurde. Es war ein Massaker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung, als „Vergeltungsaktion“ für den wachsenden französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Nach dem Besuch von General de Gaulle am 4. März 1945 wurde der Ort zum Symbol der vom Feind gedemütigten und im Leiden ungebrochen gebliebenen Nation.

Zwangsarbeit im Stollen

Als die französische Armee im Juli 1945 Tirol besetzte, stieß sie in Schwaz auf einen Ort des Verbrechens. Ein Jahr zuvor war hier ein Barackenlager für mehrere Hundert Zwangsarbeiter eingerichtet worden. Ziel war, Arbeitskräfte für die Rüstungsproduktion im Sigmundstollen vor Ort einzusetzen. 1944 war die Luftüberlegenheit der Alliierten so drückend geworden, dass kriegswichtige Produktion in Stollen, Höhlen und Tunnels verlagert wurde. Die Messerschmittwerke AG Augsburg beauftragte daher ihr Werk in Kematen, Teile der Fertigung des Düsenjägers Me 262 in den alten Stollen im Schwazer Bergwerk zu verlagern.

Am 22. Mai 1944 begann der Ausbau eines Felsgewölbes zu einer Fabrik mit vier Geschoßen und Nebenräumen. Die Messerschmitthalle war 20 Meter hoch und 60 Meter breit. Gleichzeitig wurden im Osten der Stadt Schwaz Arbeits- und Gefangenenlager für 500 Männer errichtet, sie waren umzäunt mit Stacheldraht und von der SS bewacht. Im Dezember 1944 begann die Fertigung im Bergwerk, produziert wurden Flugzeugteile. Die Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten arbeiteten rund um die Uhr in Tag- und Nachtschichten bis zu 16 Stunden, sie verrichteten ihre schwere körperliche Arbeit ohne Schutzkleidung, zum Teil sogar barfuß. Manchmal verließen sie den Stollen zwei bis drei Tage nicht. Sowjetische Gefangene wurden in einem Bergwerk in der Nähe von Buch hingerichtet.

Das Lager bestand bis zum Kriegsende, danach wurden bis 1948 belastete Nationalsozialisten hier interniert, ein Teil der Messerschmitthalle wurde gesprengt. Dadurch, dass die französischen Militärbehörden diesen Ort der Zwangsarbeit in Anspielung an das Märtyrerdorf in Frankreich Oradour benannten, „drückten sie ihm endgültig den Stempel des Schandmals auf“, so der französische Historiker Stéphane Michonneau. Anstelle des Lagers entstand eine Unterkunft für Flüchtlinge und 1954 ein Ortsteil für sozial Ausgegrenzte und Wohnungslose, die man Märzensiedlung nannte. Erst 1988 wurde die letzte Baracke abgetragen.

Heute haben weder das Gefangenenlager noch das Entnazifizierungscamp, auch nicht die Flüchtlingsunterkunft und die Armensiedlung sichtbare Spuren hinterlassen. In Schwaz blieb der Begriff „Oradour“ für den Stadtteil zwischen Buch und St. Margarethen lebendig, doch die meisten wussten nicht, was dahintersteckte, er war schlicht unverständlich. Ein wesentlicher, ein dunkler Aspekt der lokalen Geschichte war in Vergessenheit geraten. Es blieben eine Gedenkstele und eine Inschrift. Das Geschehen wurde im Lauf der Zeit überdeckt und vergessen.

1995 begann mit einer Initiative des Schwazer Festivals „Klangspuren“ unter der Leitung von Thomas Larcher und Othmar Costa eine Aufarbeitung, um das Wissen über die Menschen, die hier tief im Stollen versklavt und ermordet wurden, zu retten und um historische Fakten zu sichern. Die Veranstaltungsreihe wurde ein Meilenstein der Gedenkkultur. Sie griff auf dokumentarische, literarische, musikalische und fotografische Darstellungsformen zurück. Die Geschichte des Messerschmittstollens und des Zwangsarbeiterlagers wurde mit einem breiten Medienecho in Erinnerung gerufen.

Was ist jetzt, 2023, von dem Projekt geblieben, was hat es angestoßen? Ist etwas davon im Gedächtnis der Bevölkerung übrig? Die Ruinen von Oradour-sur-Glane in Frankreich sind ein ikonenhafter Erinnerungsort. Wurde der gleichnamige Ort in Tirol zum Ort der Nichterinnerung ohne nachweisbare Wirkungen? Die Fragestellung knapp 30 Jahre später hat sich verändert, der Rückgriff auf Zeitzeugen ist nicht mehr möglich, es bleibt „erinnerte Erinnerung“. Ein neues Ausstellungsprojekt nennt sich daher „Memories of Memories“, es reflektiert nun anhand des Schwazer Lagers „den Umgang mit Erinnerung, Verdrängung und Vergessen bezüglich der NS-Zeit und der direkten Nachkriegszeit bis ins Heute“, so Kuratorin Michaela Feurstein-Prasser in dem Buch, das parallel zu der Ausstellung erschien (siehe Literaturtipp).

Der Schatten des Schweigens

Die Ausstellung ist dreigeteilt, auf Schwaz, Innsbruck und Hall. Neue Fotos der idyllischen Schwazer Landschaft von Arno Gisinger fordern uns auf, unser Wissen zu hinterfragen. Nichts scheint darauf hinzudeuten, dass es hier Tragödien und Leiden gab. Eine Leerstelle, über die die wuchernde Natur einen diskreten Schleier legt. Sie verhüllt Tatsachen, „denen man nur schwer ins Auge sehen kann“, so Stéphane Michonneau in einem bemerkenswerten Essay in dem Buch. Die Kultivierung der Landschaft ermögliche es, eine Mauer des Schweigens aufzubauen, die sich in eine Mauer des Vergessens verwandle.

Die Ruinen des französischen Dorfes Oradour-sur-Glane wurden  zum historischen Denkmal.
Die Ruinen des französischen Dorfes Oradour-sur-Glane wurden zum historischen Denkmal.Alamy Stock Photo

Der Historiker fühlt sich erinnert an Verdun, wo die Bewaldung die Linien einer zerrissenen Landschaft abgerundet habe, an den Westwall an der Grenze des Deutschen Reiches zu Frankreich, wo acht Prozent der 18.000 Bunker stehen geblieben sind. Viele von ihnen wurden in ein Haus der Natur umgewandelt, das Publikum kann hier Artenvielfalt entdecken. Wasserflächen und Wasserläufe, die einst die Alliierten aufhalten sollten, sind nun Freizeitanlagen und sind umgeben von Wanderwegen. Es wäre nicht erstaunlich, wenn das Gelände eines Tages zu einem Naturpark erklärt würde, wie es 1913 für Waterloo veranlasst wurde, schreibt Michonneau.  

In einer künstlerischen Installation vor dem Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck werden Gisingers Fotos präsentiert und der französischen Gedenkstätte gegenübergestellt. Dazu kommen neu entdeckte historische Fotos des französischen Fotografen Gaston Paris, der 1945 das Schwazer Lager fotografierte. Die in Paris lebende Tiroler Künstlerin Christine Ljubanović nähert sich mit einem Film ihrer persönlichen Kindheitserinnerung an einen Besuch im Lager Oradour. Das ganze Ausstellungsteam stellt sich der Frage: Wie erinnert man an Ereignisse, die man nur durch überlieferte Quellen oder Erzählungen kennt? Und findet überzeugende Antworten, um den Schatten des Schweigens zu durchbrechen. 

„Memories of Memories. Das Lager Oradour“

Ausstellung der Tiroler Landesmuseen (bis 28. 1. 2024)

Das dazugehörige Buch:
Roland Sila und Michaela Feurstein-Prasser (Hg.),
Residenz V., 208 S., 39 Euro

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