Gastkommentar

Die „friedliche“ Politik des Verrats

Peter Kufner
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Warum Orbáns Umgang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine frappant an die 1930er-Jahre erinnert.

Ich lese in der ungarischen regierungsnahen Presse die Leserzuschriften zum Krieg in der Ukraine. „Im Interesse der Machtbestrebungen Amerikas brechen die schwachsinnigen EU-Führer den dritten Weltkrieg vom Zaun!“, schreibt ein Leser. Dies ist nur eines der vielen Beispiele, die wir täglich in Erklärungen und Äußerungen der ungarischen Regierung aufgetischt bekommen. Demzufolge sind die USA und die EU die Kriegstreiber. In einer seiner Reden ging Viktor Orbán sogar so weit zu sagen, dass es ein großes wirtschaftliches Interesse des Westens an diesem Krieg gebe. Und im März 2023 erklärte er auf dem Gipfel der EU: „Ungarn gehört zum Friedenslager und fordert daher weiterhin einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Friedensverhandlungen.“

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Für den Historiker drängt sich die Analogie zu den 1930-iger Jahren auf: Damals bereitete sich Hitler bereits auf den Krieg vor, aber der Großteil der Welt war „für den Frieden“. Man stellte sich dem Angreifer nicht, sondern versuchte, ihn zum Frieden zu überreden. Zu keinem besseren Zeitpunkt als 2017 hätte der Franzose Éric Vuillard sein kleines Buch „Die Tagesordnung“ veröffentlichen können, nämlich genau zwischen Putins beiden Aggressionen gegen die Ukraine (2014 und 2022). Vuillard erinnert darin an die Ereignisse zwischen Februar 1933 und September 1939, die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Vuillard schreibt: „Das Stück begann, bevor der Vorhang sich hob.“

Das Buch erinnert an die ­wichtigsten Kapitel der berüchtigten Appeasement-Politik. Zwischen den Jahren 1933 und 1937 hatte Hitler mit der Umsetzung seiner Angriffspläne bereits begonnen und sogar Fortschritte erzielt: Er annektierte das Saarland, militarisierte das Rheinland, intervenierte auf der Seite Francos im Spanischen Bürgerkrieg. Hitler hatte seinen Vertrauten bereits seine Pläne für den Anschluss Österreichs und der Tschechoslowakei dargelegt. Und in Dachau stand auch bereits das berüchtigte Konzentrations­lager.

Frankreich und England waren Wochen nach den oben genannten Ereignissen zunehmend beunruhigt. Lord Halifax, der zweite Mann des englischen Kabinetts, reiste am 19. November 1937 auf Einladung Görings als Privatperson nach Deutschland, ging mit Göring auf die Jagd und besuchte dann Hitler in Berchtesgaden. Der schlaue Fuchs der englischen Politik ging sogar so weit, Hitler zu versichern, dass seine bereits bekannten Pläne gegen Österreich und die Tschechoslowakei „der Regierung Seiner Majestät nicht unbegründet erscheinen, wenn dies alles durch friedliche Verhandlungen geschieht.“

Alle waren „für den Frieden“

Die erste und wichtigste Etappe von Hitlers Aggression war die Annexion Österreichs. Drei Monate nach dem Besuch von Lord Halifax lud er den österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg ein. Der Kanzler wurde gedemütigt und gezwungen, alle Forderungen Hitlers zu akzeptieren, was praktisch das Ende des unabhängigen Österreichs bedeutete – und Schuschnigg ging als „Friedensbefürworter“ auf alles ein. Nach kurzem Zögern tat es ihm auch der Präsident der Republik Österreich gleich.

In Europa waren alle „für den Frieden“! Die englische Politik zeigte dies besonders anschaulich. Bereits im März 1938 war Hitler in Österreich einmarschiert. Auch das konnte die „Friedensbefürworter“ des Westens nicht beunruhigen. Am 30. September 1938 unterzeichneten Hitler, Mussolini, Chamberlain und der französische Premierminister Daladier ihr Abkommen. Der britische und der französische Premier waren sehr zufrieden mit sich selbst, dass sie „den Frieden Europas“ gerettet hatten, indem sie Hitler die Tschechoslowakei überließen.

Die Zugeständnisse stellten Hitler jedoch nicht zufrieden, sondern steigerten sein Selbstvertrauen und seinen Hunger nach Eroberung. Am 1. September 1939 marschierte er schließlich in Polen ein. Damit war jegliche Friedenspolitik beendet. England und Frankreich erklärten Hitler den Krieg. Damit begann der verheerendste Krieg der Weltgeschichte.

Nicht zweimal in denselben Abgrund

„Man sollte nicht zweimal in denselben Abgrund fallen, doch wir fallen immer hinein“, schließt Vuillard seinen Gedankengang.

Heute sind nur noch Putins Verbündete und Freunde „für den Frieden“, darunter auch Donald Trump. Einer seiner Slogans, den er auf seinen Kundgebungen in die Menge schreit, lautet: „Nach meiner Wiederwahl zum Präsidenten werde ich den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden.“ Das ist sogar einigermaßen glaubwürdig, da die Hilfe für die Ukraine und die Lieferung von Kriegsmaterial sofort eingestellt würden und damit für Putin der Weg frei wäre, die ganze Ukraine zu besetzen.

Die USA und die EU stehen gegenwärtig mit enormer finanzieller und militärischer Unterstützung der Ukraine bei. Sie sind sich nämlich darüber im Klaren, dass ein echter Frieden nicht durch Zugeständnisse an den Aggressor, sondern nur durch seine Niederlage erreicht werden kann.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“-Printausgabe, 30.9.2023)

Der Autor

Iván T. Berend ist ungarischer Historiker und Spezialist für europäische Wirtschaftsgeschichte. Seit 1990 Professor an der University of California (UCLA), korrespondierendes Mitglied der ÖWA.

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