Frankfurter Buchmesse

Das können wir empfehlen: 13 Romane für diesen Herbst

Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ führt uns in die Nazizeit. Hauptfigur ist der Regisseur G. W. Pabst
Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ führt uns in die Nazizeit. Hauptfigur ist der Regisseur G. W. Pabst
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Die Literatur-Redaktion der „Presse“ ist nicht abergläubisch und empfiehlt rechtzeitig vor der Frankfurter Buchmesse 13 Romane, die diese Saison erschienen sind.

Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, Roman. 448 S., geb., € 26,50 (Luchterhand)
Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, Roman. 448 S., geb., € 26,50 (Luchterhand)

Brutal, diese Sehnsucht

Und zack, ist es um sie geschehen. Muna betritt die Räume des Magazins, für das sie neben der Schule schreibt, da trifft sie ihn zum ersten Mal, „den schönsten Mann, den ich je in meinem Leben sehen würde“. Sie wird ihn stalken. Er ignoriert sie. Oder ist gemein. Trotzdem gelingt es ihr, ihn zu verführen.

Terézia Mora schreibt in „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ über eine Amour fou, über die Liebe auf den ersten Blick, von der wir mittlerweile wissen, wie betrogen sie sein kann: So romantisch sind wir nicht mehr. Jemandem zu verfallen, von dem wir nur den äußeren Schein kennen, das kann psychisch doch gar nicht gesund sein. Und auch eine Beziehung, die so toxisch ist wie diese, so brutal, die uns unglücklich macht, über Jahre, Jahrzehnte, würde uns wohl eher zum Therapeuten treiben als in die Schwärmerei. Denn Magnus, so heißt er, hat die Macht zwar nicht gesucht, die er über sie hat. Aber er missbraucht sie.

Terézia Moras Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sie hat ihn schon einmal gewonnen, ihre Chancen stehen deshalb nicht gut. Wir würden es uns trotzdem wünschen, denn Mora kann über die Liebe schreiben und Missbrauch und über beides mit der gleichen Intensität. best

Richard Ford: „Valentinstag“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. 382 S., geb., € 29,50 (Hanser Berlin)
Richard Ford: „Valentinstag“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. 382 S., geb., € 29,50 (Hanser Berlin)

Franks letzter Roadtrip

Mit Frank Bascombe hat der US-amerikanische Autor Richard Ford einen ikonischen Charakter geschaffen, der ihn seit bald vierzig Jahren begleitet. Im fünften Bascombe-Roman ist der ehemalige Sportreporter selbst schon in die Jahre gekommen, hat mehrere Schicksalsschläge hinter sich. Der nächste kündigt sich an: Sohn Paul ist unheilbar erkrankt, an ALS. Frank will ihm eine Freude machen und mit ihm seinen Lieblingsfilm, Roger Cormans „Valentinstags-Massaker“, anschauen, doch der Film fällt wegen einer Demonstration aus. Vater und Sohn gehen schließlich auf einen Roadtrip. Das Ziel sind die in Stein gemeißelten Präsidentenköpfe beim Mount Rushmore. Tief in das Herz der USA führt Richard Ford die Lesenden auf der Reise nach South Dakota, vorbei an Menschen, die wie Frank Bascombe nach ein bisschen Glück suchen. Diese Suche ist auch gleichzeitig eine Versöhnung mit dem Scheitern. eu

Emma Cline: „Die Einladung“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Monika Baark. 318 S., geb., € 27,50 (Hanser)
Emma Cline: „Die Einladung“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Monika Baark. 318 S., geb., € 27,50 (Hanser)

Der Sommer ist ihr Ruin

Ein Sommer in den Hamptons. Das klingt idyllisch. Da denkt man nicht an Gefahr. Doch Alex droht schon auf den ersten Seiten unterzugehen. Sie hat sich im Meer treiben lassen, hat an all die unbeaufsichtigten Taschen am Strand gedacht, so leichtsinnig sind sie, die Reichen, und dabei hat eine Strömung sie erfasst, und nun kann sie tun, was sie will, sie kommt nicht vom Fleck.

Alex, 22 Jahre alt, ertrinkt nicht. Sie kehrt zurück ins Haus des Geschäftsmannes, der sie in diesem Sommer aushält, es ist ein einfacher Deal: Wohlverhalten und Sex gegen hübsche Sommerkleider und ein Dach über dem Kopf. Als der Deal scheitert – Weil sie sich von einem anderen in den Pool hat werfen lassen? Weil sie eine Delle ins Auto gefahren hat? –, steht Alex ohne Obdach da. Und schwindelt sich durch.

Emma Cline erzählt in „Die Einladung“ von einer jungen Frau, die so raffiniert ist, dass es einem den Atem raubt; einer Überlebenskünstlerin, die etwa den Nannys vorspielt, sie sei eine Freundin der Familie, und die sich dann, mit einem fremden Kind an der Hand, in einen exklusiven Club einschleicht. Was für eine Menschenkenntnis! Welche Fähigkeit zur Manipulation! Und was für Vergnügen auch für uns Leser und Leserinnen, das Leben der Reichen durch ihre Augen zu betrachten.

Wir sehen Alex also dabei zu, wie sie alle hereinlegt. Und trotzdem untergeht! Denn ja, das tut sie. Wie kann man so clever sein und sich dabei so täuschen? Ein rasantes Buch über die Illusionen, Abgründe – und darüber, dass den Bewohnern der Hamptons keine Gefahr droht. Sie wissen schon, warum sie ihre Taschen unbeaufsichtigt am Strand liegen lassen können. best

Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“, Roman. 368 S., geb., € 25,50 (Rowohlt)
Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“, Roman. 368 S., geb., € 25,50 (Rowohlt)

Stille Flucht ins Gaming

Es war die Hölle, du Idiot!“ Acht Jahre erduldet Till Kokorda in der Wiener Eliteschule Marianum den Psychoterror seines Klassenvorstands Bruno Dolinar, ein „Lord Voldemort im Lodenmantel“. Nur wer ihn aushält, so Dolinars Credo, ist würdig, sich Absolvent des Marianums zu nennen. Warum seine Schüler die bravsten im Marianum sind, weiß niemand, und es interessiert auch kaum einen, denn die meisten „spüren kein Mitleid mit Kindern, die schon mit elf wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen könnten, und das auch zeigen, wenn sie die Chance dazu bekommen, die unglaublich herablassend und brutal sein können“. Till wählt einen anderen Weg, die Flucht ins Gaming, vor allem „Age of Empires“, in dem er es bereits mit 15 zur Meisterschaft bringt, weitgehend unbemerkt von seiner Umgebung: eine parallele Superhelden-Existenz im Netz.

Der österreichische Autor Tonio Schachinger (Jahrgang 1992) weiß, wovon er in seinem bemerkenswerten Coming-of-Age-Roman „Echtzeitalter“ schreibt. Denn das Marianum ist unschwer als das Wiener Theresianum zu erkennen, in dem auch Schachinger Schüler war, Bruno Dolinar ist an ein reales Vorbild angelehnt, wie sich die Schilderungen des Schulalltags im Elitegymnasium insgesamt sehr nahe an der Realität bewegen. In „Echtzeitalter“ be­schreibt Schachinger das Leben junger Menschen unter Druck und die Ventile, die sie dafür suchen: Rauchen (was immer), Alkohol, Drogen, Gaming. Was man wählt, ist letzten Endes egal: „Allen ist gemeinsam, dass sie einem helfen, das Leben zu vergessen und zu ertragen.“ 

Laura Freudenthaler: „Arson“, Roman. 240 S., geb., € 24,95 (Jung und Jung)
Laura Freudenthaler: „Arson“, Roman. 240 S., geb., € 24,95 (Jung und Jung)

Die Menschheit als Brandstifter

In Laura Freudenthalers Buch „Arson“ stehen nicht nur einzelne Häuser oder Paläste in Flammen, sondern der gesamte Globus. Im Titel steckt zudem das englische Wort für Brandstiftung. Es ist ein Text, der um die Widerstandskraft von Literatur weiß, der sprachlich präzise und poetisch genau ist und mit filmischen Aspekten unterfüttert. Der alleinige Akteur von „Arson“ ist die brennende Erde, die ganze Welt wird von ihrem Untergang her betrachtet. Die Ich-Erzählerin, die nicht erzählt, sondern berichtet, lebt in eher prekären Verhältnissen. Sie zieht von der Stadt aufs Land, nistet sich in ein leer stehendes Schloss ein, beobachtet rundum die Gegend, macht Notizen. Laura Freudenthalers Figuren zeichnen präzise auf, was der Fall ist. Es geht hier und jetzt ums Ganze, denn der Planet ist aus dem Gleichgewicht gebracht. Brandstifter sind nicht mehr einzelne Personen, sondern es ist die Menschheit an sich. lin

Abraham Verghese: „Die Träumenden von Madras“, Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. 894 S., geb., € 29,50 (Insel)
Abraham Verghese: „Die Träumenden von Madras“, Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. 894 S., geb., € 29,50 (Insel)

Fernweh für Stubenhocker

Reich wie der Süden Indiens ist dieses Buch. Mit „Die Träumenden von Madras“ hat Abraham Verghese ein 894 Seiten starkes Epos geschaffen, das es an nichts fehlen lässt und selbst den hartnäckigsten Stubenhocker mit Fernweh erfüllen wird. Rund um die Person von „Big Ammachi“, der großen Mutter, entfaltet der Autor das Leben von drei Generationen – ihre Triumphe ebenso wie ihre Tragödien. Das Schicksal meint es selbst mit guten Menschen oft nicht gut. Auch harte Arbeit wird nicht immer belohnt. Die Natur schenkt alles, aber sie kann es schon morgen wieder nehmen. Gekonnt stellt Verghese die Familiengeschichte in geschichtlichen Zusammenhang: Die Befreiung des Landes aus der Kolonialherrschaft bedeutet nicht das Ende des Kastensystems und der Unterdrückung der Frau. Alle prüft das Leben, wenige bestehen wie „Big Ammachi“. Darin liegt aber auch ein Keim der Hoffnung. gar

Wolf Haas: „Eigentum“, Roman. 156 S., geb., € 23,50 (Hanser)
Wolf Haas: „Eigentum“, Roman. 156 S., geb., € 23,50 (Hanser)

Am Grab steht schon der Name

Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging.“ Der neue Wolf Haas führt uns ins Altersheim, zu seiner Mutter, die im Sterben liegt, und er tut gar nicht so, als ginge sie ihm nicht auf die Nerven. Das Gejammer tönt ihm noch in den Ohren: „Immer nur sparen, sparen, sparen.“ Immer nur „arbeiten, arbeiten, arbeiten“. Wie oft hat sie ihm doch die Geschichte vom Großvater und der Inflation erzählt! Doch von Seite zu Seite verschwindet der lapidare Ton, der Sohn erzählt von der Mutter, die in Zeiten jung gewesen ist, als fast jeder ein Schicksal hatte und nicht nur ein Leben mit Aufs und Abs. Krieg. Krankheit. Gewalt. Tod überall. Und die Hoffnung auf das Eigenheim, das sich nie erfüllt hat. Bis jetzt. Seit vielen Jahren steht schon ihr Name auf dem Grab, ihre eigenen Kubikmeter, nun bereit, bezogen zu werden. best

Paolo Giordano: „Tasmanien“, Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. 336 S., geb., € 26,50 (Suhrkamp)
Paolo Giordano: „Tasmanien“, Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. 336 S., geb., € 26,50 (Suhrkamp)

Bunker für die Apokalypse

Der italienische Autor Paolo Giordano, geboren 1982 und studierter Physiker, war in den vergangenen Jahren vom Erfolg regelrecht verwöhnt. Mit seinem Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ landete er 2008 einen internationalen Bestseller. Vor zwei Jahren produzierte HBO eine Serie aus seiner Feder. Nun beschäftigt sich Giordano mit der omnipräsenten Krisenstimmung. Die Hauptfigur seines Romans „Tasmanien“, die wie er Paolo heißt, sieht sich mit gleich mehreren Problemen konfrontiert. Seine Ehe zerbricht am unerfüllten Kinderwunsch seinerseits. Eine Reise zur Pariser Klimakonferenz ist nicht gerade von positiven Ausblicken begleitet. Vor den Folgen von Krieg, Terrorismus und Klimawandel gibt es scheinbar kein Versteck. Das titelgebende Tasmanien vielleicht, wo sich Milliardäre schon Bunker für die Apokaylpse bauen? Giordanos Roman liest sich wie ein Psychogramm der Gesellschaft in Europa. eu

C. F. Ramuz: „Sturz in die Sonne“, Roman. Aus dem Französischen von Steven Wyss. 188 S., geb., € 27,50 (Limmat)
C. F. Ramuz: „Sturz in die Sonne“, Roman. Aus dem Französischen von Steven Wyss. 188 S., geb., € 27,50 (Limmat)

38 Grad und es wird heißer

Über 38 Grad – ein extrem heißer Sommer in Genf hat Charles Ferdinand Ramuz zu seinem kurzen Roman über ­eine dem Hitzetod entgegengehende Menschheit inspiriert. Das Buch spielt ausschließlich unter Dorfbewohnern am Genfer See. Das erste Besondere an ihm: Was hier so aktuell erscheint, ist 100 Jahre alt (der Autor wurde 1878, im selben Jahr wie Robert Walser geboren, nur im französischen Teil der Schweiz). Das zweite Besondere: Dieser Autor, zeitlebens von Céline als fast einziger Großer seiner Zeit gerühmt, ist heute ziemlich vergessen, dabei ist dieses kleine Buch große Literatur. In einer an mündliche Redeweisen angelehnten, zugleich durchkomponierten, formal wagemutigen Sprache zeichnet Ramuz wunderbare Miniaturen und zugleich ein zeitloses Panorama über den Umgang mit der drohenden Katastrophe, mit dem Tod. Wie sie uns doch gleichen, diese Menschen . . . sim

Necati Öziri: „Vatermal“, Roman. 304 S., geb., € 26,50 (Claassen)
Necati Öziri: „Vatermal“, Roman. 304 S., geb., € 26,50 (Claassen)

Das musst du wissen!

Der junge Literaturstudent Arda ist krank, er weiß nicht, ob sich das restliche Leben noch ausgehen wird. Abwechselnd besuchen ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Spital, nie gleichzeitig, denn die Vergangenheit hat die beiden Frauen unwiederbringlich entzweit. Die große Leerstelle im Krankenzimmer bleibt Metin, der Vater, der die Familie in Deutschland verlassen und sich selbst überlassen hat. Für ihn schreibt sich Arda um Kopf und Kragen, hält sein bisheriges Leben fest. „Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.“ Der 34-jährige Necati Öziri hat eine tief empfindsame Geschichte geschrieben, unheilvoll und komisch zugleich. Seite um Seite offenbart der sprachlich feine Debütroman, wie sich Traumata über Generationen vererben, und wie die türkeistämmige Diaspora in Deutschland ihren Platz sucht – und selten findet. duö

Maja Haderlap: „Nachtfrauen“, Roman. 294 S., geb., € 25,50 (Suhrkamp)
Maja Haderlap: „Nachtfrauen“, Roman. 294 S., geb., € 25,50 (Suhrkamp)

Was im Dorf schlummert

Es ist kein einfacher Besuch im Dorf der Kindheit. Mira muss ihrer Mutter Anni beibringen, dass die Übersiedelung ins Altersheim ansteht. Nicht nur, weil die Kräfte nachlassen, sondern auch, weil der Cousin eine Werkstatt anstelle des alten Häuschens errichten möchte. Maja Haderlap hat ihren Roman „Nachtfrauen“ in der Kärntner Grenzregion angesiedelt, wie auch schon den vor zwölf Jahren erschienenen „Engel des Vergessens“, mit dem sie einen Meilenstein der österreichischen Literatur schuf. Für Mira wird der Aufenthalt im fiktiven Jaundorf zu einer Reise in die Vergangenheit – mehr denn je ist sie, die seit Jahrzehnten in der Stadt lebt, wieder wieder mit ihrer kärntnerslowenischen Identität konfrontiert. Als sie Interviews aus ihrer Studienzeit findet – darunter auch eines mit Anni –, begreift sie ihre Mutter als starke Frau, mit der sie eine neue Beziehung aufbauen will – was so einfach nicht ist. eu

<strong>Ulrike Sterblich, </strong><em>Drifter. </em>Roman. 288 S., geb.,€ 24,50 (Rowohlt)
Ulrike Sterblich, Drifter. Roman. 288 S., geb.,€ 24,50 (Rowohlt)

Influencerin als Glücksfee

Eine hochgewachsene Frau im goldenen Kleid mit einem Zottelhund an der Seite taucht im bisher beschaulichen Leben von Wenzel Zahn auf, der bei einem öffentlich-rechtlichen Sender die Social-Media-Kanäle betreut, und das, ohne sich dabei besonders anzustrengen. Das Besondere an der Be­gegnung: Als er die Frau das erste Mal sieht, sitzt sie in der U-Bahn und liest im neuen Buch „Elektrokröte“ seines Lieblingsschriftstellers K:B Drifter, das offiziell noch gar nicht erschienen ist. Merkwürdige Dinge passieren seitdem, die Frau erweist sich als wahre Glücksfee, am dramatischsten ist aber der Blitzschlag, der Wenzels Freund Marco Killmann, genannt „Killer“, trifft. Killer ist ab da nicht mehr derselbe. Er kündigt seinen Job als PR-Chef nach einem Teambuilding-Seminar, weil einer der Teilnehmer danach unter Panikattacken leidet – ein vergleichsweise sanfter Protest gegen Mitarbeiterschikanen. Wenzel hingegen grundelt weiter in seinem Regionalsender und spielt in seiner Freizeit FreeCell.

Ulrike Sterblich, die sich mit ihrem Debütroman „The German Girl“ bereits einen Namen gemacht hat und unter anderem als Moderatorin von Talkshows arbeitet, hat mit „Drifter“ eine spielerisch-literarische Wundertüte hingezaubert, die ihren Reiz aus der Vermischung von Realität und dem virtuellem Hokuspokus bezieht, dem wir alle – manche mehr, manche weniger – folgen. Sie hat es damit auf die Shortlist für den deutschen Buchpreis geschafft. Ihre Persiflage der Influencer-Szene und der Social-Media-Welten bleibt auf einer liebevollen Ebene. Hier wird niemand abgezockt, im Gegenteil. lin

Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“, Roman. 480 S., geb., € 27,50 (Rowohlt)
Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“, Roman. 480 S., geb., € 27,50 (Rowohlt)

Kehlmann über Kollaboration

Die Vermessung der Welt“ hat ihn einst zum internationalen Literaturstar gemacht. Nun hat Daniel Kehlmann eine Vermessung der Kollaboration wider Willen unternommen, der Zwischenräume zwischen Verweigern und Mitmachen, in die ein Künstler tappt, der seine Kunst nicht ohne die Hilfe Reicher und Mächtiger ausüben kann. Es ist eines seiner besten Bücher geworden. „Lichtspiel“ erzählt vom ­österreichischen Filmemacher Georg Wilhelm Pabst, der in der Zwischenkriegszeit international mit Filmen wie „Die freudlose Gasse“ und „Die Büchse der Pandora“ bekannt geworden ist. 1933 gerade im Ausland, geht er nach Hollywood statt nach Deutschland zurück und wird dort nur frustriert. Nach dem „Anschluss“ die folgenschwere Entscheidung: Wegen seiner kranken Mutter fährt er in die Steiermark, bleibt dort hängen und bekommt ein Angebot von Goebbels, das er, wie man so sagt, nicht ablehnen kann . . .

Kehlmanns Roman strotzt von Satiren: ob er nun Gespräche zwischen dem kaum Englisch redenden Pabst und kommerz­orientierten Hollywood-Produzenten beschreibt oder die „Machtübernahme“ auf dem steirischen Familiensitz durch die Nazi-Hausmeisterfamilie. Bei alledem ist es die Empathie (nicht nur) mit der Hauptfigur, die „Lichtspiel“ so stark und schmerzhaft, auch wehmütig macht. Die Subtilität, mit welcher der Sohn des von den Nazis verfolgten Filmemachers Michael Kehlmann die äußeren und inneren Zwänge seiner Figuren beschreibt, gibt den moralischen Fragen, die auf dem Grunde seines Romans liegen, nicht weniger Gewicht, sondern nur noch mehr. sim

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