Gastkommentar

Weiterleben trotz islamistischen Terrors

Passanten vor der Fassade des israelischen Verteidigungsministeriums in Tel Aviv. An der Mauer kleben Fotos der nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln. Das Bild ist vom 16. Oktober 2023.
Passanten vor der Fassade des israelischen Verteidigungsministeriums in Tel Aviv. An der Mauer kleben Fotos der nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln. Das Bild ist vom 16. Oktober 2023. APA / AFP / Ahmad Gharabli
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Wenn sich Menschen bewusst außerhalb aller Regeln stellen, werden sie dann zu Nicht-mehr-Menschen?

Eine junge israelische Überlebende – kalkweiß, tränenüberströmt, starre Miene – spricht in Fernsehkameras. Sie erzählt von dem blutigen Überfall der Hamas-Terroristen auf das Rave-Festival, das sie am 7. Oktober mit Freunden besucht hat. 260 ermordete junge Menschen. Durch ihre Schilderung des Massakers bricht immer wieder Angst, blankes Entsetzen, Fassungslosigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht und Verstörung. Herzzerreißend.

In meiner Erinnerung taucht ein anderes Gesicht auf: das einer jungen Frau aus dem Tiroler ­Pitztal, die mit ihrem Freund am Abend des 13. November 2015 in Paris ein beliebtes Konzertlokal besucht hat. Terroristen des IS überfielen das Bataclan, in einem stundenlangen Blutbad ermordeten sie 90 Menschen. Am Tag danach wurde die junge Frau – körperlich unverletzt, aber schwer traumatisiert – zu uns in die österreichische Botschaft gebracht. Genau wie ihre junge israelische Leidensgefährtin nach dem Massaker durch die Hamas-Terroristen wollte sie über das Erlebte reden. Ohne anzuhalten, oft in langen Schleifen, mit Wiederholungen, nüchtern, dann wieder gequält. Ihre Gedanken galten dem Freund, den sie begleitet und dann im Chaos verloren hatte. Lebt er? Ist er verletzt? Wo ist er? Warum hat sie ihn nicht retten können? Warum hat sie überlebt?

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Ein Detail war der blutgetränkte Pullover der jungen Tirolerin. Sie wollte das olivgrüne Kleidungsstück nicht ausziehen, um nichts in der Welt. Es muss sie wohl irgendwie geschützt haben, in diesen endlosen Stunden unvorstellbarer Gewalt, als sie unter Ermordeten und Sterbenden gelegen hat. Im Kopf der traumatisierten jungen Frau muss sich die Walze der hautnah erlebten Unmenschlichkeit noch lang weitergedreht haben, vielleicht bis heute, acht Jahre danach. Ich hoffe, dass sie inzwischen gelernt hat, irgendwie damit umzugehen. Weiterzuleben.

Den Pullover, den die junge Frau in der Schreckensnacht im Bataclan getragen hatte, ließ sie in der Botschaft. Wir haben ihn später weggeworfen. Nichts hätte ihn reinigen können.

Gibt es denn überhaupt etwas, was uns Halt geben könnte, wenn die Seele wie ein abstürzendes Flugzeug keinen Landestreifen mehr hat, sondern nur mehr die Katastrophe einer Bruchlandung bleibt? Oder der Fall in die Bodenlosigkeit? Was lösen die Schilderungen äußerster Unmenschlichkeit in uns aus? Wie umgehen mit dem Unvorstellbaren, wenn es uns jäh als Wirklichkeit ins Gesicht springt??

Natürlich ist jeder Vergleich zwischen dem Pariser Bataclan 2015 und dem Rave-Festival in Israel 2023 unzulässig. Und dennoch: islamistische Terror-Angriffe aus dem Nichts, ein Gemetzel an friedlich feiernden jungen Menschen aus aller Welt, stundenlanges gezieltes Morden, bar jeder Menschlichkeit. Beide Male war ich persönlich nicht unmittelbar betroffen, war selbst in Sicherheit, verfolgte die blutigen Geschehnisse am Bildschirm. Aber beide Male kamen in mir neben der Fassungslosigkeit auch blanke Wut und ein schier unbezwingbares Verlangen nach Rache auf. Wenn sich Menschen bewusst und absichtlich außerhalb aller Regeln stellen, wer sind sie dann? Werden sie zu Nicht-mehr-Menschen? Können sie uns ihre Unmenschlichkeit aufzwingen? Ihre Vernichtungswut?

Nach der Ohnmacht und der Wut kommt die Trauer. Das Unbegreifliche wird nicht weniger unbegreiflich, nur weil es sich wiederholt, anderswo, zu einer anderen Zeit. Werden die Überlebenden irgendwann die Kraft finden, die mit dem Blut unschuldiger Opfer getränkte Kleidung auszuziehen?

Antoine Leiris, ein französischer Familienvater, dessen Frau 2015 im Bataclan ermordet wurde, hat dem Terror und der Gewalt seine Botschaft entgegengestellt: „Vous n’aurez pas ma ­haine.“ Meinen Hass bekommt ihr nicht.

Ursula Plassnik (*1956) war von 2004 bis 2008 österreichische Außenministerin und von 2011 bis 2016 Botschafterin in Paris.

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(„Presse“-Printausgabe, 17. Oktober 2023)

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