Gastkommentar

Die Gewalt, die zur Hamas führte

Die von der Hamas gezeigte Brutalität gegenüber Israel ist unentschuldbar, entstand aber nicht im luftleeren Raum.

Die Lehre aus dem derzeitigen Geschehen in Israel und Gaza ist, dass Gewalt mehr Gewalt erzeugt. Und: Die von der Hamas am 7. Oktober gezeigte Brutalität entstand nicht im luftleeren Raum. Die letzte echte Chance, den tragischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas zu vermeiden, wurde durch ein Attentat zunichte gemacht: die Ermordung des israelischen Premierministers Jitzchak Rabin im Jahr 1995. Der Attentäter war kein militanter Palästinenser, sondern ein israelischer Extremist, der die Osloer Abkommen ablehnte, in denen Rabin einen Kompromiss nach dem Prinzip „Land für Frieden“ anstrebte. Die großen Nutznießer des Attentats waren israelische Nationalisten, allen voran Benjamin Netanjahu, der Anführer der rechtsgerichteten Likud-Partei. Netanjahu hatte die Osloer Abkommen abgelehnt, weil sie Israel verpflichteten, sich aus den von ihm nach dem Sechstagekrieg des Jahres 1967 besetzten Gebieten zurückzuziehen. Aus Protest gegen die Abkommen und gegen Rabin führte Netanjahu einen nachgestellten Leichenzug an, komplett mit Sarg und Galgen.

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In den Jahren nach der Ermordung Rabins gewannen in Israel rechte Extremisten an Macht, und die Aussicht auf die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates in den besetzten Gebieten schwand nahezu völlig. Zugleich stärkte das Scheitern von Palästinenserführer Jassir Arafat und seiner säkularen Fatah-Bewegung, einen palästinensischen Staat zu schaffen, die islamistische Hamas, die ihre Legitimität darauf gründet, Israelis (sowie mutmaßliche Kollaborateure Israels) zu töten. Von Gaza aus, das sie seit 2007 kontrolliert, dehnte die Hamas ihren Einfluss (und ihre Gewalt) auf das von Israel besetzte Westjordanland aus.

Netanjahu steht heute der fanatischsten nationalistischen Regierung in der Geschichte Israels vor. Dieser Regierung gehört auch Finanzminister Bezalel Smotrich an, zu dessen Zuständigkeiten die Verwaltung eines großen Teils des besetzten Westjordanlandes gehört. Smotrich hat wiederholt Gewalt gegen Palästinenser geschürt.

Nachdem im Februar ein Palästinenser zwei israelische Siedler erschossen hatte, randalierten Hunderte von Israelis durch das nahegelegene palästinensische Dorf Huwara. Es waren Szenen, die an Kosaken-Pogrome gegen jüdische Siedlungen in Russland vor mehr als einem Jahrhundert erinnerten. Und wie die russische Polizei während der Pogrome griffen israelische Streitkräfte in der Gegend nicht ein, um die Bewohner zu schützen oder die Täter festzunehmen.

Beide Seiten schüren Gewalt

Nichts davon entschuldigt die ­von den Hamas-Terroristen verübten Gräuel­taten, bei denen mehr als 1400 Israelis getötet wurden. Laut Berichten hält die Hamas weitere 200 Geiseln fest, und sie hat angekündigt, bei jedem Bombenangriff Israels auf ein Haus in Gaza ohne Vorwarnung eine davon zu töten. Ob Israel die Hamas als militärische Kraft eliminieren kann, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass Israel im Kampf um dieses Ziel bereit sein muss, viele Leben zu opfern, vermutlich sowohl Soldaten als auch Geiseln. Trotzdem ist sicher, dass die brutalen Verbrechen der Hamas Israel nicht das Recht geben, Kinder hungern zu lassen.

Viele Beobachter sahen die Palästinenser in der Frage der palästinensischen Autonomie lang moralisch im Recht. Nun wurde die palästinensische Sache durch die in ihrem Namen begangenen grausamen Morde und Entführungen befleckt. Die Palästinenser müssen auf die Zerstörung der Hamas hoffen, wenn sie je das moralische Übergewicht zurückgewinnen wollen. Solang die Hamas behaupten kann, sie zu vertreten, werden die von ihr begangenen Gräueltaten die Sache der Palästinenser delegitimieren.

Peter Singer ist Professor für Bioethik, Universität Princeton. © Project Syndicate 1995–2023. Übersetzung aus dem Englischen: Jan Doolan

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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