Im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Armenien
Expedition Europa

Die Armenier sind skeptisch: „Wir werden türkisiert“

Im armenische Grenz­dorf Margara fürchtet ein Teil der Einwohner eine mögliche Grenzöffnung, die anderen glauben nicht daran: „Der Tür­ke hält nicht Wort.“

An die armenische-türkische Grenze fuhr ich, weil man in diesem ­kriegs­versehrten Jahr auch einmal Zeuge eines Friedensschlusses wer­den will. Seit dem Völkermord, dem 1915/1916 bis zu 1,5 Mil­lio­nen Armenier zum Opfer fielen, sind die Beziehungen zwischen den ­Ländern inexistent, die Grenze ist seit 1993 ge­schlos­sen. Heuer kamen die Dinge je­doch in Bewegung.

2009 wurde in Zürich ein Abkommen erreicht, aber von der Türkei nicht ratifiziert. Die Annäherung nahm Ende 2021 Fahrt ­auf, 3,5 Jah­re, nachdem der kremlskeptische Journalist Nikol Pa­schin­jan mit ei­ner friedlichen Revolution die Macht übernommen, und ein Jahr, nach­dem er den zweiten Krieg um Bergkarabach verloren hatte. ­

Am ­1. Juli 2022 ver­einbarte man, die Land­gren­ze für Angehörige von Drittstaaten zu öffnen. Heuer im Feb­ruar wur­de die Brücke über den Grenzfluss Aras zum er­sten Mal seit 30 Jahren benutzt – Armenien schickte fünf Laster ­mit Erdbe­benhilfe in die Türkei. Obwohl er in ­der zweiten Reihe hin­ter dem aserbaidschanischen Präsidenten, Ilham Ali­jew, platziert wur­de, nahm Paschinjan im Juni an Erdoğans Amtseinführung teil. Am 26. März und dann wieder am 1. Juli er­klärten die­ ­­Au­ßen­minister, sie wollten die Grenze „so schnell wie möglich“ öff­nen.

Armeniens öffentliche Meinung schien dagegen zu sein. Auf meinen vier Ar­menienreisen der vergangenen zwei Jahre hörte ich allerorten, Pa­schinjan sei ein „Va­terlandsverräter“, ein von Rachedurst ge­triebenes „Gossenkind“ oder ein „ge­kauf­ter tür­ki­scher Agent“.

Zwei Grenzpolizisten im Lada

Am 19. September ging das armenische Karabach in einem eintägigen Blitz­krieg verloren, eine Öffnung der Grenze zur mit Aserbaidschan ver­bün­deten Türkei hätte seither unpassend gewirkt, drei Tage vor dem dritten Karabach-Krieg besuchte ich aber das armenische Grenz­dorf Margara. Paschinjan war richtig in Vorleistung ge­gangen: Ab der Stadt Etschmiadzin war die vor­her miserable Straße frisch as­phal­tiert und verbreitert worden.

Es war staubig und heiß, von Gülleduft umwehte Heu­qua­der waren auf­ge­sta­pelt. Margaras Störche waren schon ausgeflogen aus ihren großen luftigen Nestern. Da der Grenzstreifen am Fluss eingezäunt und verwachsen war, konnte ich nichts vom direkt angrenzenden türkischen Nach­bar­dorf erheischen. Die Grenze war schon so lange zu, dass ein alter Dörfler überzeugt war, das sei auch schon unter der Sowjetmacht so gewesen. Die Leute redeten, als wäre die Grenzschließung von Ar­me­ni­en ausgegangen, „weil die Türkei von uns verlangt, dass wir nicht mehr von Genozid sprechen“. Dass es ei­gent­lich die Tür­kei war, die 1993 aus Solidarität mit dem im er­sten Ka­ra­bach­krieg un­ter­legenen Aserbaidschan die Gren­ze schloss, war schon vergessen. Ich traf niemanden, ­der je drüben gewesen wäre.

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