Gastbeitrag

Wenn sogar die Bäume Jagd auf Juden machen

<strong>Franz Winter</strong> (*1971 in Graz) ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Graz.
Franz Winter (*1971 in Graz) ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Graz.Privat
  • Drucken

Im Islam wurden Juden besser behandelt – aber auch massakriert. Zum Antisemitismus in der islamischen Tradition.

Im Zusammenhang mit den Antisemitismen, die unter anderem in muslimischen Migrationskontexten in den vergangenen Wochen wieder in das ­Bewusstsein der Öffentlichkeit geschwappt sind und zweifellos auch den Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Dagestan bilden, wird gern ins Spiel gebracht, dass Antisemitismus in der islamischen Tradition eine ganz junge Erscheinung sei und de facto erst im 20. Jahrhundert von Europa aus in den Nahen Osten importiert worden wäre. Dieses Argument wird von Muslimen selbst verwendet, ist aber nicht zuletzt auch in Kreisen postkolonialer, sich zumeist als links verstehender Kritiker populär, weil man damit „dem Westen“ wieder einmal alles Schlechte zuschieben kann. Demgegenüber wird auf eine angeblich ausschließlich judenfreundliche Tradition hingewiesen, die die ganze Geschichte des Islam hindurch zu beobachten wäre. Diese Behauptungen sind das klassische Beispiel einer Argumentation, in der es mehr um die kritische Haltung gegenüber dem christlichen Antisemitismus geht, mit dem Islam als einer Art orientalistischer Kontrastfolie – der dadurch in Verkennung der historischen Tatsachen eine Idealisierung erfährt. 

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Westgoten und Muslime

Abgesehen davon, dass es illegitim ist, eine rund eineinhalb Jahrtausende alte Religion mit all ihren Entwicklungsläufen pauschal zu beurteilen, ist es naiv anzunehmen, dass eine religiöse Tradition einfach so umgedreht werden könne. Und in der Tat ist die Geschichte des Islam keineswegs so eindeutig (und einseitig positiv), wenn es um den Umgang mit dem Judentum geht. Zwar stimmt es, dass zeitweise Juden unter islamischer Herrschaft größere Freiheiten und zuweilen sogar eine bessere Behandlung genossen haben. Das klassische Beispiel wäre die Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel ab dem achten Jahrhundert, wo zuvor unter der Herrschaft der Westgoten die Wende zum Katholizismus die Situation für Juden massiv verschlimmerte und die muslimischen Eroberer als Befreier empfunden wurden. Doch gab es auch hier völlig anders geartete Entwicklungen bis hin zum Massaker von Granada 1066 an der jüdischen Bevölkerung durch muslimische Berber. Auch hier ist es nicht legitim, die Ursachen nur in politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklungen zu sehen. Religion war auf jeden Fall ein zentraler Faktor in diesen gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Gerade hier ist auch ein Blick in die Anfänge des Islam wichtig, weil sich bestimmte Muster des Umgangs bereits dort herausbildeten. So finden sich zwar im Koran die bekannten Beteuerungen, dass das Judentum wie auch das Christentum als Teil des „Volkes des Buches“ tolerierte Traditionen wären, was diesen einen Status als dafür („Kopfsteuer“) zahlende „Schutzbefohlene“ (dhimmi) gesichert hat. Doch gibt es äußerst viele Stellen im Koran und insbesondere in der Tradition der sogenannten Hadithe, den Sammlun­gen von angeblichen Aussprü­chen Mohammeds, die schlicht­weg judenfeindlich sind. Auch die Biografie Mohammeds weist in ihren dunkelsten Kapiteln auf ein problematisches Verhältnis hin, was viel mit dem allen Religionen inhärenten letztendlichen Absolutheitsanspruch zu tun hat, der auch gegenüber der inhaltlich und auch organisatorisch sehr nahe verwandten jüdischen Religion profiliert werden musste.

So geriet Mohammed in seiner Zeit in Medina, der bedeutenden Phase der Formierung seiner Lehre nach 622, in offene Konflikte mit einigen jüdischen Stämmen ebendort. Es waren wohl primär Loyalitätskonflikte im Zusammenhang mit diversen kriegerischen Aktionen, die Mohammed gegen Mekka ausführte. Doch bestrafte Mohammed diese Vergehen äußerst brutal. Die Mitglieder zweier jüdischer Stämme wurden aus Medina verbannt, und in einem Fall wurden sogar alle männlichen Mitglieder des Stamms massakriert. Dies alles verliert auch bei einer historischen Kontextualisierung nichts an Schärfe. Und selbst wenn man all dies als zeitgebunden wahrnimmt, wirken diese Traditionsbezüge bis heute nach: So werden etwa die iranischen Raketen, die die Hisbollah auf Israel gerichtet hat, Khaybar genannt, nach der Oase, in der sich jene jüdischen Stämme verschanzt haben (und dann besiegt wurden).

Hamas knüpft an Tradition an

Gern herangezogen und insbesondere seit den 2000er-Jahren in arabischen sozialen Netzwerken fleißig geteilt wurde auch ein angeblicher Ausspruch Mohammeds aus den Hadith-Sammlungen: Darin wird vorhergesagt, dass im apokalyptischen Endkampf selbst die Bäume, hinter denen sich Juden verstecken, bei der Suche nach diesen mithelfen und Muslime wörtlich dazu auffordern, Juden zu töten. Die Ereignisse vom 7. Oktober und das berserkerartige Ausschwärmen der Terroristen in die unmittelbaren Grenzregionen, wo regelrecht Jagd auf Juden gemacht wurde, scheinen hier durchaus direkt Anklänge zu haben, wenn man den erschreckenden Berichten der Massaker folgt. Das sind aber nur zwei Beispiele von vielen weiteren, in denen offensichtlich Traditionsbezüge hergestellt werden.

Der aus dem europäischen Kontext ab der Mitte des 19. Jahrhunderts importierte Antisemitismus mit seinen Spezifika (wie der Idee einer jüdischen Weltverschwörung) fiel also auf einen durchaus vorbereiteten Boden. Dies alles mit Tiefgang und schonungslos zu thematisieren und abzubauen, ist wohl eine der vordringlichsten Aufgaben einer religiösen Tradition, wenn sie sich mit den Entwicklungen der Moderne positiv arrangieren will.

debatte@diepresse.com

Der Autor

Franz Winter (*1971 in Graz) ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.