Offen Gefragt

Helene Maimann: „Die Welt ist für mich nun eine andere“

Helene Maimann reagierte euphorisch als sie mit neun Jahren erfuhr, dass sie Jüdin ist.
Helene Maimann reagierte euphorisch als sie mit neun Jahren erfuhr, dass sie Jüdin ist.Clemens Fabry
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»Das Massaker war eine klare Botschaft der Hamas an alle Juden, nicht nur an die Israelis«, sagt Helene Maimann. »Sie lautet: ›Wir bringen euch um, einen nach dem anderen.‹ Das muss auch von den Menschen im Westen verstanden werden.« Die Historikerin findet es schier unglaublich, dass sich auch Juden und LGTBQ für Palestine stark machen.

Wir haben einander vor einigen Wochen getroffen und über Ihr neues Buch, „Der leuchtende Stern“, gesprochen. Das war vor dem 7. Oktober. Nach dem Massaker der Hamas auf Israel war klar, wir müssten uns noch einmal treffen. „Die Welt ist nun eine andere“, sagten Sie am Telefon. Können Sie diese Worte präzisieren?

Helene Maimann: Es gab mehrere Momente in meinem Leben, in denen ich sofort wusste: Jetzt ist alles anders als am Tag zuvor. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war das so ein Moment im positiven Sinn. 9/11 im negativen. Und der 7. Oktober bedeutet wieder eine so fundamentale Zäsur. Seit diesem Tag ist meine Welt eine andere, und nicht nur meine Welt.

Warum?

Dieses unbeschreibliche Massaker war eine ganz klare Botschaft an alle Juden, nicht nur an die Israelis. Die Hamas spricht ja nicht von „Israelis“, sie spricht von „den“ Juden, und damit meinen sie alle Juden auf der ganzen Welt. Und die Botschaft lautet: „So wird es euch allen ergehen. Wir bringen euch um, einen nach dem anderen. Wenn nicht heute, dann morgen.“ Die Hamas hat ja nicht vor, einen palästinensischen Staat zu errichten, das wissen auch alle arabischen Länder. Für sie ist die Hamas kein Verbündeter, sondern ein Feind. Da kann Erdoğan noch so feurige Reden schwingen, er weiß, dass die Hamas einen jihadistischen Staat errichten und weitertragen will. Und Tote sind dabei egal. Das ist das Problem. Die Hamas hat, seitdem sie in Gaza regiert, eigentlich schon zuvor in den 1990er-Jahren, einen Märtyrerkult entwickelt. Den jungen Männern wurde versprochen, sie würden, wenn sie sich opfern, geradewegs in das Paradies eingehen, wo 70 Jungfrauen auf sie warten. Und sie haben es geglaubt und glauben es immer noch. Auch heute wird nicht von toten Kämpfern oder Zivilisten gesprochen, sondern von Märtyrern. Das muss auch hier im Westen von all den Menschen verstanden werden, die zu Hundertausenden auf die Straße gehen, um den Judenmord zu feiern.

In unserem letzten Gespräch erzählten Sie von Ihrer großen Liebe zu den USA und den Menschen dort. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass auch an US-Elite-Universitäten Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit zu Hause ist. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Dass auf dem Campus von Universitäten wie Standford, Cornell, Harvard, aber auch Toronto nicht nur „From the river to the sea, Palestine will be free!“ gerufen wird, sondern dass auch die Studentenkomitees, die Vertretungen der Fakultäten und die Lehrenden Resolutionen unterschreiben oder selbst verfassen, in denen es heißt: „Das war ein richtiger Schritt“, und keinerlei Empathie für die Israelis äußern, hat etwas in mir gebrochen.

Haben Sie eine Erklärung für das, was an den US-Universitäten passiert?

Es hat mit dieser Welle der Wokeness zu tun, die sich über die amerikanischen und britischen Universitäten ausgebreitet und auch die Verlage erreicht hat. Was das alles impliziert! Dieser Tribalismus, dieses Reden über Dekolonialisierung und die Einteilung der Welt in eine sehr manichäische in Schwarz und Weiß, das ist totaler Unsinn. Auch die Diskussionen darüber, wer gehört zu uns und wer nicht. Darf eine nicht jüdische Schauspielerin überhaupt eine Jüdin spielen oder eine weiße Frau ein Gedicht lesen, das eine Schwarze geschrieben hat? Das geht mir auf die Nerven. Nehmen Sie mich: Ich habe so viele Kulturen in mir. Ich bin doch nicht nur jüdisch, ich bin abendländisch, ich bin europäisch, ich bin feministisch und durch diese Stadt geprägt und ich bin immer noch eine Linke, wenngleich ich immer weniger mit dieser heutigen Linken etwas zu tun haben will.

Das heißt, diese Wokeness ist Ihnen zu radikal und einseitig?

Sie ist reaktionär! Das ist Rassismus, der auch hier in diesem Land geherrscht hat und teilweise immer noch herrscht. Das Unglaubliche ist, dass auch Juden darunter sind. Ihnen ist offenbar nicht klar, worum es geht. Auch Schwule, Transsexuelle, LGBTQ machen sich für Palestine stark, wir kennen alle diese Bilder. Ihnen würde ich gern sagen: „Was glaubt ihr, was mit euch in Gaza passieren würde? Ihr würdet von den Dächern hinuntergeworfen werden, so schnell könntet ihr gar nicht schauen.“

Viele der Menschen, die sich nun aufseiten Palästinas stellen, finden, dass der Hamas-Terroranschlag im Kontext des Konflikts zwischen Juden und Palästinensern gesehen werden müssen. Was entgegnen Sie ihnen?

Diese Relativierung durch den Kontext verschleiert das Ereignis. Das haben wir schon einmal nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Die Leute haben über ihre Leichen im Keller lang nicht gesprochen, nicht nur hier war das so, überall. Aber über den Judenmord wurde am längsten und konsequentesten geschwiegen. Eine große internationale Debatte hat erst mit dem Ende des Kommunismus Anfang der 1990er begonnen, weil die Archive im Osten aufgegangen sind, wo die Massenvernichtung der Juden stattgefunden hat. Aber auch damals wurde das Thema sofort kontextualisiert und eingebettet in den jahrtausendelang bestehenden Antisemitismus, in die Geschichte der Kirche, der Inquisition und vieles mehr. Aber dieses Verbrechen der Shoah, das in diesem Ausmaß niemand für möglich gehalten hätte, steht für sich und darf nicht relativiert werden. Das gilt auch für das Massaker des 7. Oktober 2023.

Stimmt. Und wenn nun täglich über 100 Kinder in Gaza sterben, steht das auch für sich. Dann ist auch jeder Kontext unzulässig, nicht?

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