Zeichen der Zeit

Europa muss ein Riese werden

Der Kommunismus hat uns eine Gehirnwäsche verpasst, der Kapitalismus unsere Herzen ausgespült. 
Der Kommunismus hat uns eine Gehirnwäsche verpasst, der Kapitalismus unsere Herzen ausgespült. Foto: Ng Han Guan/AP Photo/Picturedesk
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Ich hatte im Jahr 1989 die Hoffnung, wir könnten von Osteuropa das Positive erhalten und es mit den humanistischen Werten des Westens verbinden. Aber es ist anders gekommen. Es gilt als akzeptabel, einfach nur reich werden zu wollen, egal wie – egal auch, ob durch Korruption.

Wir müssen die Freiheit, die wir erkämpft haben, halten. Das erfordert heutzutage wieder viel Kraft. Europäische Länder radikalisieren sich, einige rasant und grauenhaft. Müssen wir heute die Menschenrechte neu definieren, wie ich überall – nicht nur in Europa – oft höre? In der Zeit des ökonomischen Pragmatismus, in der wir die Demokratie auf ein Business reduziert haben?

Ich war zwei Jahre lang in China, wo einander das Schlimmste des Kapitalismus und das Schlimmste des Kommunismus „geküsst“ haben, und wo die Wirtschaft beständig wächst – aber ohne Menschenrechte. China zeigt, dass Kapitalismus und Totalitarismus einander nicht ausschließen, sondern eine eigentümlich perfekte Symbiose eingehen können. Hier grenzenloses Wachstum, dort grenzenlose Überwachung. Die Macht verrät wieder ihre ureigenste Intention: alles nur ein wenig Abweichende, Eigenwillige, Unabhängige oder nicht Einzuordnende zu entfernen.

Seit einigen Jahren habe ich in Europa das Gefühl, dass manche am liebsten wieder die Mauer oder wenigstens einen Zaun zwischen Ost und West errichten würden. Eine mentale Grenze gibt es jedenfalls. Im Jahr 1989 hatte ich die Hoffnung, wir könnten von Osteuropa das Positive erhalten und es mit den humanistischen Werten des Westens verbinden. Anders ist es gekommen. Es gilt als akzeptabel, einfach nur reich werden zu wollen, egal wie – egal auch, ob durch Korruption. Dazu passt, dass vielen Menschen heute das chinesische Modell imponiert, das ich bei zahlreichen Aufenthalten unmittelbar kennengelernt habe: ein wirtschaftlich erfolgreicher, kapitalistisch-kommunistischer Polizeistaat, der Wohlstand verspricht. 

Gehorsamkeit dem Herrscher gegenüber steckt China in den Knochen

Mehr als zweitausend Jahre lang wurde China durch Religion und Konfuzius’ Sittenlehre geformt. Gehorsamkeit dem Herrscher gegenüber, ob er nun Kaiser heißt oder Kommunistische Partei, steckt dem Land in den Knochen. Autoritätshörigkeit und Familienzusammenhalt bilden die Grundlage der moralischen Werte, und das macht sich die politische Führung zunutze. Beides dient dem wirtschaftlichen Aufschwung.

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