Interview

Integrationsexperte Kenan Güngör: „Wir erleben einen Tsunami des massiven Antisemitismus“

Kenan Güngör ist kurdischstämmiger Soziologe und berät auch die Bundesregierung.
Kenan Güngör ist kurdischstämmiger Soziologe und berät auch die Bundesregierung. Mirjam Reither
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Integrationsexperte Kenan Güngör spricht im „Presse“-Interview spricht er über Gründe für Antisemitismus unter Arabischstämmigen und Möglichkeiten, wie man ihm begegnen kann.

Die Presse: Herr Güngör, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober wird Tausende Kilometer entfernt davon in Europa, auch in Wien, gegen Israel demonstriert, es werden Israel-Fahnen von Tempeln gerissen, und der jüdische Teil des Friedhofs wurde in Brand gesteckt. Überrascht Sie das?

Kenan Güngör: Nein. Ich bin überrascht und bestürzt, dass der Krieg im Nahen Osten so eine weltweite Dimension bekommen und das Potenzial hat, einen regionalen Flächenbrand auszulösen. Aber dass das vor diesem Hintergrund auch derart Niederschlag in Österreich findet, war zu erwarten. Es ist zugleich festzuhalten, dass die Vorfälle, so bitter sie sind, im Vergleich zu vielen europäischen Ländern übersichtlich sind. Es ist also bisher noch glimpflich verlaufen. 

Abgesehen davon, dass die antisemitischen Übergriffe auch hierzulande stark zunahmen: Warum gibt es in Wien nicht Massenproteste wie etwa in Berlin? 

Da geht es um Quantität. Die islamisch-arabische Bevölkerung ist im Vergleich zu Deutschland viel kleiner. Wenn ein Prozent der muslimisch-arabischen Bevölkerung in Berlin auf die Straße geht, ist das etwas anderes als in Wien. 

Laut Antisemitismusbericht weisen Arabischstämmige „eine viel stärkere antisemitische Einstellung als die österreichische Gesamtbevölkerung“ auf, das gilt auch für hier Geborene. Wieso wird so ein Weltbild auch nach zwei Generationen in Österreich oft nicht abgelegt? 

Wir dürfen die soziale, politische Prägung und das kulturelle Gedächtnis von Menschen nicht vergessen. Wenn jemand etwa aus einer rechtsextremen Familie kommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder auch rechtsextrem sind, sehr hoch. Der Bruch passiert nicht unmittelbar. Ein anderer Unterschied ist, dass Menschen aus dem islamisch-arabischen Raum einen diametral entgegengesetzten Blick auf den Nahost-Konflikt haben. Es ist deren Narrativ, dass für die Gründung Israels Muslime vertrieben wurden, es steht in den Geschichtsbüchern, dass Israel und somit auch der Westen Feinde der Muslime seien und die heiligen Orte beschmutzen. Das prägt diese Menschen. Wenn wir beide aus dem Nahen Osten kämen, hätten wir möglicherweise ähnliche Bilder im Kopf.

In Studien gaben Arabischstämmige mehrheitlich an, dass Juden die Geschäftswelt beherrschen, 40 Prozent halten Holocaust-Berichte für „übertrieben“. Kann man jene, die so antisemitisch sozialisiert sind, überhaupt vom Gegenteil überzeugen?

Ja, es ist schwer, aber möglich, sonst hätten wir ja auch keine Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen können. Aber wir müssen erkennen, dass der größte Treiber der Konflikt im Nahen Osten ist und entschärft werden muss. 

Österreich wird kaum Einfluss auf diesen Konflikt nehmen können. Was kann man also tun?

Erst wenn eine Deeskalation vor Ort stattfindet, kann man in ruhigeren Fahrwassern systematisch daran arbeiten, diese Vorurteile und kollektiven Empfindlichkeiten abzubauen. Nicht nur in der Schule, auch in anderen Begegnungs- und Austauschformaten. 

Gibt es davon genug?

Nicht vor dem Hintergrund, dass wir gerade einen Tsunami des massiven Antisemitismus erleben, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Das hat eine Qualität, dass uns das noch lange beschäftigen wird. Israel wird die Hamas militärisch besiegen, doch politisch-medial und im Kampf der Bilder hat Israel durch die Flächenbombardierungen in Gaza den Krieg weltweit verloren. In der arabisch-islamischen Welt und in Teilen Europas empfinden das viele als Unrecht, viele entwickeln Wut und Hass. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass sich das alles vermehrt in Gewalt niederschlagen kann – nicht gegen Objekte, sondern gegen die jüdische Bevölkerung. 

Ist das in Österreich realistisch?

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