Gastkommentar

Junge Menschen sind unser Niedergang, again

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Die Jungen wollen leisten, aber sie fragen nach. Das ist wichtig für uns alle und wirklich unangenehm für manche.

Seit dem Römischen Reich – um auch daran wieder einmal zu denken – spricht man vom Niedergang durch die Nachfolgegeneration. Aber speziell in unserer Permakrisen-Ära hört man vermehrt Stimmen, die jungen Menschen den Leistungswillen absprechen und sie oft als eine Mischung aus zu fordernd und gleichzeitig zu passiv bezeichnen.

Um die Lage junger Menschen von heute zu verstehen, muss man sich deren Gesamtkontext vergegenwärtigen.

Erstens, der Industrialismus hat sich noch immer nicht in die Wissensgesellschaft weiterentwickelt, wie es nötig wäre. Vielmehr sind die Probleme des industriellen Kapitalismus sichtbarer als seine Lösungen: Klimakrise, Energiekrise, Finanzkrise oder die Leistbarkeit von Eigentum. Auch: Leistung wird heute noch immer mit Methoden der Industrialisierung gemessen, also schweigende Duldung, physische Anwesenheit und selbstverständliche Mehrarbeit.

„Weapons of Mass Distraction“

Zweitens, die Erosion von Vertrauen in Institutionen, Politik und Medien durch Populismus, Fake News, Skandale oder Nepotismus. Unsere Welt ist ernüchternd genug, zusätzlich geprägt durch kriegerische Konflikte global und vor der Haustüre. Aber das Bild, das durch Industrie, Wirtschaft, Politik und Medien davon gezeichnet wird, ist für junge Menschen noch erschreckender. Zudem kommt, dass Social Media heute Kanäle voller Propaganda, Hassrede, Polarisierung, Empörung, Überinszenierung und schlichtweg sinnloser Ablenkung sind. Als „Weapons of Mass Distraction“ bezeichnet Scott Galloway daher Social Media. Studien zeigen aber interessanterweise, dass ausgerechnet junge Menschen digitale Medien aufgeklärter verwenden als Millennials und Boomer, die darin eher Unterhaltung und weniger Diskurs suchen.

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Drittens, das Fehlen einer gesellschaftlichen Utopie für ein besseres Morgen. Die (Wieder)Aufbauerzählung samt einhergehenden Verbesserungen für alle greift nicht mehr. Junge Menschen sind heute Zeugen davon, dass nicht mehr alles besser, billiger oder mehr wird. Jede faktenstarke Beweisführung der besten aller Welten bisher will für junge Menschen nicht gelingen, da viele dieser Errungenschaften auf Kosten derselben gehen. Es fehlt an einem konkreten Zielbild, an einem glaubwürdigen Narrativ, wie eine gute Zukunft für den Planeten und seine Menschen aussehen und Realität werden kann.

Es wird nicht mehr alles besser

Viertens, die Mühen der Ebene nach Jahrzehnten des Aufbaus. Dinge wie Freiheit, Selbstbestimmung, Selbständigkeit, also die Fundamente des Humanismus, für die wir uns als Gesellschaft lange Zeit angestrengt haben, sind erreicht und manifestieren sich – für manche noch immer überraschend. Dadurch wird der industrielle Aufbau- und Leistungsmythos teilweise ins Gegenteil verkehrt: Wohlstand und Fortschritt werden als (bedingungslos) möglich vorausgesetzt. Die moderne Höchstleistung ist nicht mehr das Ende der Karriereleiter, sondern die Selbstverwirklichung. Das überfordert junge Menschen aber auch, denn es fehlt die Orientierung in der Ebene, in der jede eingeschlagene Richtung die richtige sein könnte.

Fünftens, durch die fortschreitende Entkopplung der eigenen Tätigkeit vom realen, sichtbaren Ergebnis, verfestigt sich das gesteigerte Verlangen nach Arbeit mit Sinn und Purpose. Firmen und Konzerne mit ihrer Bürokratie, ihren Großraumbüros und ihrer vermeintlichen Scheinwelt aus Zahlen und Reports sind keine Destinationen mehr. Eine klassische Karriere wird eher als Arbeit ohne Erfüllung angesehen.

Pragmatisch, nüchtern und realistisch

Sechstens, junge Menschen lassen sich (zum Glück) noch immer nicht unterkriegen. Diese Generation ist aufgrund der oben genannten Punkte pragmatisch, nüchtern und realistisch. Diese Jugend will kämpfen und sich durchsetzen. Die Errungenschaften der Vorgängergenerationen werden als Gegebenheiten wahrgenommen, im Guten wie im Schlechten. Die Klimakrise und höhere Einstiegsgehälter zählen da ebenso dazu wie Mental Health, die Viertagewoche oder die Unleistbarkeit von Eigentum. Was als neue Währung hinzukommt: die subjektive Befindlichkeit als kleinster gemeinsamer Nenner für Entscheidungen. Denn Gefühle sind in einer Welt der Unsicherheiten und Unwägbarkeiten vor allem eines nicht: anfechtbar.

Siebtens, diese Generation kritisiert ihre Vorgängergenerationen anhand der genannten Punkte wie auch in ihrem Ansehen, ihrer Autorität und ihrer Systemtreue. Sie weiß, dass es ein neues, gerechteres und ressourcenfreundlicheres System braucht, dass viele Lösungen lang bekannt, aber ebenso lang verkannt sind. Weil es einfach nicht gelingt, ernst gemeinte Klimapolitik, eine Bildungsreform, eine Reform des Gesundheits- und Pflegesystems, Maßnahmen gegen Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft und viele weitere Dinge spürbar auf den Weg zu bringen.

Ich erlebe diese Themen in der Familie, in Diskussionen mit meinen Bonus-Söhnen. Viele dieser Spannungen und Sinnfragen gab es zu Zeiten meiner beruflichen Sozialisierung noch nicht. Die Jungs sind kritisch, fordernd, informiert und stellen die richtigen Fragen, denn der beschriebene Zustand unserer Welt und unserer Gesellschaft erreicht sie 24/7 am Handy.

Sie wollen etwas bewegen, etwas leisten, aber nicht in unser tradiertes System einsteigen. Wenn, dann zu ihren und nicht unseren Konditionen. Ich bin noch mit dem eingemeindenden „Das gehört dazu, sonst kommst du nicht weiter“ der Leistungsgesellschaft sozialisiert. Heute beobachte ich in diesen Gesprächen vermehrt ein selbstbestimmtes „Will ich dazu gehören? So geht es nicht weiter“ und merke, dass sie im Gesamtkontext recht haben.

Wir waren angepasster – und dankbarer

Ich kann den Jungs nicht beweisen, dass die oben genannten Reformthemen ernsthaft und nachhaltig genug angegangen werden, oder ob die Regierung sich lieber auf Klientel- und Wahlkampfpolitik fokussiert. Ich kann ihnen auch nicht erklären, warum viele Start-up-Gründer und selbst bereichernde Bosse für die Ausbeutung ihrer Mitarbeiter und/oder das Irreführen ihrer Geldgeber so gefeiert werden. Oder warum man von alteingesessenen Wirtschaftsdenkern und -lenkern als faul abgekanzelt wird, nur weil man schon immer bescheidene unterbezahlte Jobs, die begrenzte Perspektiven bieten und trotzdem absolute Hörigkeit einfordern, nicht mehr machen will.

Ob sie die Einzigen sind, die sich das auszusprechen trauen? Ja, über Jahrzehnte gesehen sind sie das. Wir alle waren wesentlich angepasster und dankbarer, im Dienste weniger Begünstigter.

Das – und den hier in Summe geschilderten Gesamtkontext – scheinen mir besagte Menschen zu vergessen, wenn sie den jungen Menschen unseren Niedergang zuschreiben und ihnen ihren Leistungswillen absprechen. Sie wollen leisten, aber sie fragen nach und lassen nicht locker. Und das ist das wirklich Wichtige für uns alle und das wirklich Unangenehme für ein paar andere.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Stefan Häckel (*1976), Studium der Medientechnik und des Mediendesigns. Bis 2004 als Freelancer für unterschiedliche Agenturen tätig. 2007 launchte er Vice Media in Österreich, deren CEO er neben anderen europäischen Rollen war. Im April 2022 hat er das Österreich-Geschäft von Vice ausgegründet, seit Anfang 2023 unter dem Namen Kubrik.

Stefan Häckel.
Stefan Häckel.Beigestellt.

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