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Auf der Suche nach dem Sinn im Leben

Soziales Schnittmuster für den Sinn: ein Haus im Grünen etwa.
Soziales Schnittmuster für den Sinn: ein Haus im Grünen etwa.Foto: Thomas Aichinger/Picturedesk
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Unser demokratischer Lebensstil, der den menschlichen Sinnbedürfnissen gerecht werden will, ist stets in Gefahr, an der Wut über den verlorenen Sinn zu zerbrechen. Dass es sich dabei möglicherweise um eine Chimäre aus der Tiefe der Zeiten handelt, stachelt das totalitäre Verlangen nach Erlösung an.

„Angst, gegenseitige Anwürfe, Unschuld, Sympathie, Schuld, Verwüstung, Versagen, Trauer – das alles waren Dinge, Gefühle, die niemand mehr wirklich empfinden konnte. Nachdenken ist sinnlos, die Welt ist sinnlos. Gott ist tot. Der Liebe kann nicht vertraut werden. Oberfläche, Oberfläche, Oberfläche war alles, woran irgendjemand einen Sinn fand.“ Bret Easton Ellis: „American Psycho“

Es gehört zur Natur des Menschen, die Einbettung in ein soziales Sinngefüge, eine „Kultur“, zu benötigen, um gegen die Bedrängnisse der sinnindifferenten Welt Zuversicht, Zukunftshoffnung und Gefühle des „Angenommenseins“ auf Dauer zu stellen. In liberalen Gesellschaften, die das Sinnverlangen radikal individualisieren, findet der Einzelne zwar gleichsam soziale Schnittmuster vor: eine Familie, einen existenzsichernden Beruf, ein Häuschen im Grünen, Reisen, Altersvorsorge. Die Liste ließe sich verlängern, aber es bliebe immer noch die drängende, bedrängende Frage, was das ganze Streben und Mühen innerhalb des großen Ganzen der Welt, in der man mit vielfältigen Angeboten lebt, letzten Endes soll.

Wo die Religion in ihren traditionellen Formen nicht mehr ohne Weiteres zur Verfügung steht, um eine solche Frage zu beantworten, bietet sich der Rückgriff auf kol­lektivistische Formen der Lebenssinn­generierung an. Man ist Teil einer Nation, eines Volkes, einer kommunitaristischen Bekenntnisgemeinschaft. Der Staatsrechtler Carl Schmitt – Papist, Antisemit, „Hitlers Kronjurist“ – hat von politischer Theologie gesprochen, womit er die religiöse Aufladung staatlicher Institutionen meinte. Die Suche nach Sinn wird unter dieser Perspektive zur Sucht nach Geborgenheit, die immer härtere Formen der Abgrenzung gegen Bedrohungen von außen – auch gegen Sinnkonkurrenten – annimmt.

Der westliche Mensch ist, solange die religiöse Tradition lebendig bleibt, Teil einer Heilsgeschichte. Man mag einwenden, dass die modernen und postmodernen Zeitläufte, in denen wir leben, sich längst von der Bannkraft des Mythos emanzipiert haben. Das stimmt, und es stimmt auch nicht. Der Mythos machte im Laufe der Jahrhunderte viele Wandlungen durch. Seit dem europäischen Humanismus hat sich aus der Existenzfristung des Einzelnen im Rahmen von Gnade und Schicksal eine Mythologie der Selbstverwirklichung herausgeschält. Ob die Welt und das Leben in ihr einen Sinn haben, ist demnach nicht einem unveränderlichen göttlichen Plan geschuldet; stattdessen gilt es, autonom – mittels Vernunft und Willenskraft – in der zeitgebundenen Welt einen überzeitlichen Sinn zu „sehen“, aus dem heraus das eigene, eng befristete Leben gestaltet werden kann.

Weltbeheimatung des Menschen

Unser „Sehen-als“ ist im Ursprung spontan, es formt unsere Erlebniswelt. Auch dass die Welt nicht bloß entstanden ist, sondern geschaffen wurde, scheint zu den Urevidenzen des Erlebens zu gehören. Vor der wissenschaftlichen Revolution funktioniert alles nach Absicht der ersten Gebärenden, des ersten Bewegers oder des biblischen Gottes, ­der über der Finsternis des Tohuwabohu schwebt. Die Schöpfungsordnung stattet die Dinge und uns selbst mit mehr aus als mit einer zeichenlosen Physis. Die Dinge der Welt „bedeuten“, und alles läuft auf einen Sinn zu, der durch die Tatsachen scheint und worauf die ganze Geschichte, als Heilsgeschichte, hinstrebt.

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