Der ökonomische Blick

Die halben Wahrheiten der Inflationsstatistiken

Wie das untere Einkommensdrittel mit der Teuerung umgeht. Der Verzicht bei vielen Dingen ist inzwischen groß.

Die ungewohnt hohe Inflationsrate – in Österreich seit einem halben Jahrhundert ohne Parallele – hat niedrige Haushaltsbudgets regelrecht gesprengt: Statistisch errechnet ist, dass bereits Mitte 2022 nicht nur Armutsbetroffene, sondern zunehmend auch die untere Mittelschicht – das ganze untere Einkommensdrittel – im Monat klar mehr Geld ausgegeben als eingenommen haben. An der WU Wien wurden diese und ähnliche Berechnungen nun zusammengefasst und analysiert – als zahlenbasiertes Fundament zu einer Studie der Armutskonferenz, die Menschen mit geringem Einkommen selbst erzählen lässt, wie sich die Preissteigerungen in ihrem Alltag bemerkbar machen.

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„Mich macht das emotional fertig, dieses Einkaufen“ (Mittelschicht)

Wohn- und Energiekosten machen bei niedrigen Haushaltsbudgets schon normalerweise einen enorm hohen Anteil aus; in den vergangenen zwei Jahren lassen sie für das restliche Leben nur mehr wenig übrig. Am meisten gespart, so schildern Armutsbetroffene wie auch die untere Mittelschicht, hätten sie bei der Freizeit.

Richtig emotional jedoch wurden die Gespräche, wenn es um die hohen Lebensmittelpreise ging, die täglich zu spüren sind. Die untere Mittelschicht isst jetzt schlechtere Produkte, die Armutsbetroffenen fast ausschließlich abgelaufene. Der Verlust an Lebensqualität ist groß, die psychische Belastung ebenso. Wer in Österreich in Armut gerät, verwendet in der Regel das gesamte Einkommen, um Grundbedürfnisse abzudecken. Die Befragten machen jedoch klar, dass das nicht alles ist: Dieselben Grundbedürfnisse wie die anderen zu haben geht sich für Armutsbetroffene nicht aus.

Ihnen sind die 17 Grad Raumtemperatur, die viele Menschen erst im Zuge der Teuerung kennengelernt haben, längst vertraut. Ergo: keine Heizung, kein Einsparungspotenzial bei den Energiekosten. Also dreht man an kleinen Schrauben: „Wir schlafen, das traue ich mich gar nicht sagen, zu dritt in einem Zimmer, damit es warm ist. Wie früher.“ (Alleinerzieherin) Die Armutsbetroffenen verlieren das letzte Quäntchen „Normalität“: Mandarinen im Winter oder die Tafel Schokolade – und finden sich weiter an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.

„Da ist eine große Sorge, eine große Angst in mir drinnen“ (Mittelschicht)

Ist nun die untere Mittelschicht infolge der Inflation von Armut bedroht? Tatsächlich ist ihr Verzicht in allen Lebensbereichen größer als jener der Armutsbetroffenen, denn wo mehr vorhanden ist, kann auch mehr eingespart werden. Die untere Mitte fühlt sich ohnmächtig. Sie sieht ihre Hoffnungen zerbrechen, weil ihre Ersparnisse auf einmal für Alltagsausgaben wie Schulskikurse, Reparaturen oder das Tanken draufgehen.

Das ist hart für Menschen, die bisher ihr eigenes Leben gestalten sowie an der Gesellschaft teilhaben konnten, indem sie etwa Spenden leisteten oder Bioprodukte kauften. Dass Bund und Länder viel Geld in die Hand nahmen, um die Folgen der Teuerung abzufedern, entschädigte armutsbetroffene Haushalte im Durchschnitt für ihre gestiegenen Kosten 2022 vollständig – nicht aber die untere Mittelschicht.

„Nachdem ich schon lang arm bin, drehe ich auch schon sehr lang keine Heizung mehr auf“ (Armutsbetroffene)

Beides zeigen die Statistiken ganz klar. Die Studie der Armutskonferenz bestätigt das, rückt es aber auch zurecht: Denn den Eindruck, dass Hilfszahlungen die Teuerung wettgemacht haben, hatte von den Befragten niemand, ganz im Gegenteil.

Damit hat die untere Mitte recht, die Armutsbetroffenen irren. Das liegt vor allem daran, dass sie mit den Teuerungshilfen zuerst die Löcher stopften, die zu einem Leben in Armut gehören: So konnte das Minus auf dem Konto einmal ausgeglichen, eine neue Waschmaschine angeschafft oder die undichten Fenster repariert werden. Um die hohen Preise zu kompensieren, blieb dann freilich nichts mehr – und die Spirale von Zahlungsrückständen und Schulden begann von Neuem.

„… dann ist das ein kurzes Zischen, und die 500 Euro sind weg“ (Armutsbetroffener)

Es liegt aber auch daran, dass durch das Dickicht an Unterstützungen (noch dazu mit oft verwirrend ähnlichen Bezeichnungen) selbst bestens Organisierte und Gebildete keinen Durchblick mehr hatten. Kleinere Zuschläge zu Sozialleistungen wurden gar nicht bemerkt oder konnten nicht zugeordnet werden.

Die einzige Ausnahme war der Klimabonus: Die hohe Summe ließ ihn nicht nur in den Geldbörsen, sondern auch im Bewusstsein der Menschen ankommen. Ein Ende der Inflation steht laut Prognosen nicht bevor, die Menschen im unteren Einkommensdrittel werden weiter Hilfe brauchen.

Die Studie der Armutskonferenz zeigt klar, welche Unzufriedenheit und welches Misstrauen sich breitgemacht haben. Es ist fünf nach zwölf, um das System der Unterstützungszahlungen so umzugestalten, dass die ungeheuren Summen im Bewusstsein der Begünstigten nicht verpuffen wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Evelyn Dawid forscht als freiberufliche Sozialwissenschaftlerin vor allem mit qualitativen Methoden mit Themenschwerpunkt Armut an der WU Wien; aktuell arbeitet sie an der Kärntner Armutsstudie.

Jeremias Staudinger ist Sozioökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Economics of Inequality (Ineq) an der WU Wien.

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

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