Sozialforschung

Sorgekultur: Die Zeiten der Großfamilie sind vorbei

Internationale Expertinnen und Experten diskutieren von Montag bis Mittwoch das verwobene Feld Wohnen und Pflege (Tagung: Transformative Change in the Contested Fields of Care and Housing in Europe).
Internationale Expertinnen und Experten diskutieren von Montag bis Mittwoch das verwobene Feld Wohnen und Pflege (Tagung: Transformative Change in the Contested Fields of Care and Housing in Europe).Imago / Martin Wagner Via www.imago-images.de
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Wohnen und Pflege sind die großen sozialen Herausforderungen von europäischen Gemeinschaften. Ein Forschungsteam aus Wien und Linz beschäftigt sich mit neuen Modellen, die beide Felder als verbundene Lebensbereiche zusammendenken.

Dass der Mensch ein soziales Wesen ist und bis ins hohe Alter hinein nützlich für andere sein möchte, ist nicht nur geriatrische Theorie. Es zeigt sich auch im realen Leben. Etwa im Waldviertel. Hier haben sich mehrere Gemeinden zusammengeschlossen, um pflegende Angehörige besser zu unterstützen und Nachbarschaftshilfe für Ältere zu etablieren. Die Initiative floriert. „Auch 80-jährige Menschen nehmen freiwillig daran teil“, sagt Florian Pimminger, Soziologe an der Johannes-Kepler-Uni Linz (JKU).

Sorgenetzwerke wachsen

Vorhaben von Privatpersonen, die gemeinschaftlich lokale „Sorgenetze“ etablieren, werden zahlreicher und vielfältiger. Sie entstehen manchmal in einem offenen Prozess der Bürgerbeteiligung, wie etwa bei der Josefstädter Initiative „Achtsamer 8.“. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des Wiener Gemeindebezirks sind dabei eingeladen, sich zu beteiligen, um ältere, hochaltrige oder demente Personen, ebenso wie Menschen anderer Herkunft, besser sozial einbinden zu können. Das Projekt wird vom Fonds Gesundes Österreich und dem Bund finanziell gefördert.

Inzwischen erkenne der Staat vermehrt den Wert solcher sorgenden Gemeinschaften (Caring Communitys) an, so Pimminger. „Diese versuchen, die gesellschaftliche Teilhabe mit Fragen des gesunden Alterns, der Partizipation in Nachbarschaften und im Wohnumfeld zu verknüpfen“, sagt sein Kollege Valentin Fröhlich. Beide Wissenschaftler untersuchen einerseits marktorientierte Formen der Personenbetreuung (etwa die 24-Stunden-Pflege), andererseits gemeinschaftsorientierte Initiativen wie die oben genannten.

Die Soziologen der JKU haben sich in einem von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geförderten Projekt mit den Sozioökonomen Benjamin Baumgartner und Hans Volmary von der WU Wien zusammengeschlossen. Deren Forschungsschwerpunkt liegt auf gemeinschaftsorientierten Wohnformen. „Oft werden explizit sozial-ökologische Ziele verfolgt, etwa die Verteilung von Care-Arbeit unter den Bewohnern einer Baugruppe oder eine Reduktion privater Wohnflä­chen durch Nutzung halb öffentlicher Gemeinschaftsräume“, sagt Baumgartner. Einen Fokus habe man auf Gemeinschaftsprojekte für Seniorinnen und Senioren gelegt. „Hier wird durch gegenseitige Unterstützung im Alltag eine selbstbestimmtere, aktivere Lebensführung ermöglicht.“

Im Team, dem auch die Vorstände der beiden beteiligten Institute angehören – die Soziologin Brigitte Aulenbacher sowie der Sozioökonom Andreas Novy – entwickelt sich eine Forschung, die Wohnen und Pflege zusammendenkt und untersucht. Die zwei Bereiche gelten als die großen sozialen Herausforderungen aller europäischen Gesellschaften. Mit Modellen, die etwa in den Niederlanden oder in Ungarn existieren, um Sorgeleistungen zu erbringen und Wohnraum zur Verfügung zu stellen, beschäftigten sich die Forscher bei Auslandsaufenthalten.

Konzepte im Ländervergleich

Die Sorgekulturen sowohl Österreichs als auch Ungarns setzen laut Pimminger nach wie vor auf Angehörige, obwohl die Zeiten, in denen pflegebedürftige Menschen von einer Großfamilie umgeben waren, längst vorbei sind. Österreich gilt europaweit als Vorreiter der mi­grantischen Live-in-Betreuung (24-Stunden-Pflege), während Ungarn mit Blick auf diese Form der Betreuung sowohl Empfänger- als auch Entsendeland ist. In beiden Ländern kommen zwar vermehrt gemeinschaftsorientierte Ansätze auf, am stärksten verbreitet sind sie jedoch in den Niederlanden.

Was die Bereitstellung von Wohnraum betrifft, so gibt es laut Benjamin Baumgartner in allen drei Ländern Bestrebungen, gemeinsame Wohnformen zu etablieren – mit unterschiedlichen Zielen und Erfolgen. In den Niederlanden zeigten derzeit private Entwickler vermehrt Interesse an gemeinschaftlichen Wohnprojekten. „In Amsterdam wird zudem die Förderung solcher gemeinschaftlichen Wohnprojekte verstärkt.“ In Ungarn hingegen erfahren Wohnprojekte kaum offizielle Unterstützung von öffentlicher Hand. „Gerade in Budapest fehlt es an finanziellen Ressourcen, um derartige Projekte zu fördern. Die wenigen gemeinschaftlichen Wohnprojekte in der Hauptstadt verstehen sich daher als Gegenbewegung, die sich gegen die Politik der nationalen Regierung absichern möchte.“

Lexikon

Neue Sorge- und Wohnformen in Europa stehen auch im Fokus der Tagung „Transformative Change in the Contested Fields of Care and Housing in Europe“. Sie findet vom 4. bis 6. Dezember an der Uni Linz (Uni-Center, Altenberger Straße 69) statt und ist für Interessierte kostenlos zugänglich (Anmeldung erforderlich: reglist24.com/careandhousing)

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