Culture Clash

Wohlfühlen statt frei sein?

Der Fokus auf unsere Rechte hat mitgeholfen, jene Limits zu durchlöchern, die die Menschenrechte vor 75 Jahren der Staatsgewalt gesetzt haben. 

In seinem Buch „Censored“ schildert Menschenrechtsaktivist Paul Coleman, wie vor 75 Jahren bei der Abfassung der Erklärung der Menschenrechte die Meinungsfreiheit diskutiert wurde. Es gab zwei Formulierungsvorschläge für gerechtfertigte Einschränkungen dieser Freiheit. Nur dem sowjetischen und dem tschechoslowakischen Delegierten gingen beide nicht weit genug: Man müsse verhindern, dass Freiheit missbraucht würde, um „Faschismus und Aggression zu propagieren oder Krieg zwischen den Nationen anzustacheln“.

Sie haben sich nicht durchgesetzt, nicht zuletzt weil, wie es die kanadische Delegation ausgedrückt hat, „der Begriff ,Faschismus‘, der einmal eine klare Bedeutung gehabt hat, nun durch die Unsitte verwischt wurde, ihn auf jede Person oder Idee anzuwenden, die nicht kommunistisch ist“. Die Mehrheit hat sich dann dafür entschieden, Artikel 19 ganz von Einschränkungen freizuhalten: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Das war 1948. Man sollte sich daran erinnern, wie klar damals die Schutzwürdigkeit des Einzelnen gegenüber der Staatsmacht gesehen wurde. Unter dem Eindruck des Totalitarismus der Nationalsozialisten und Sowjets galt es als größere Gefahr, die Staatsgewalt auf die rutschige Bahn der Freiheitsbeschränkung zu heben, als rabiate Bürger reden zu lassen. Seitdem ist viel geschehen. Wurden zunächst noch bestehende staatliche Einschränkungen wie Blasphemie-Gesetze oder das Verbot homosexueller Propaganda ins Visier genommen, entwickelte sich dann eine immer größere Unbekümmertheit gegenüber staatlichen Zwangseingriffen in die Meinungs-, Rede- und Informationsfreiheit. Einen Höhepunkt markiert jene Engländerin, die 2022 zweimal verhaftet worden ist, weil sie still in der Nähe einer Abtreibungsklinik stand. Sie habe im Kopf gebetet, was eine verbotene Protesthandlung sei.

Das Wiedererwachen des mächtigen Staats ist auf merkwürdige Art auch eine Frucht der Menschenrechte. Was als dringend gebotene Beschränkung der Staatsmacht begonnen hat, hat durch den einseitigen Fokus auf die Rechte ein Anspruchsdenken befördert, das den Staat in der Pflicht sieht, das Wohlbefinden der Bürger herbeizuführen und zu gewährleisten, zu jedem Preis. Was nicht funktionieren kann. Denn echtes Wohlbefinden, nämlich Identität, Lebenssinn und Beheimatung, beruht immer in der Übernahme von Verantwortung – in Freiheit. Und dann geht’s los.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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