Gastkommentar

Österreich, trau dir doch etwas Gutes zu

Peter Kufner
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2024 finden in Österreich mehrere Wahlen statt. Umfragen sagen Siege für Neofaschisten voraus. Der Versuch einer Ermutigung.

Meine Großmutter wurde 91 Jahre alt. Am letzten gemeinsamen Neujahrstag habe ich nach dem eindrucksvollsten historischen Ereignis ihres langen Lebens gefragt.

Und diese Frau, die Bürgerkrieg, Weltkrieg und Mondlandung erlebt hatte, Klonschafe und Atombomben, den Bau und den Fall der Berliner Mauer, die Einführung von Antibabypille und Flugverkehr, das Aufkommen von Radio, Fernsehen und Internet, die Bürgerin zweier Republiken, eines Reiches und einer Union gewesen war, ohne jemals ihre Adresse zu wechseln, hat kurz überlegt und dann geantwortet: Das Erstaunlichste war sicher, dass Österreich als eigener Staat überlebensfähig war.

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Das hat seinerzeit kaum jemand für möglich gehalten. Österreich wurde nach 1945 souveräne Demokratie, blieb das für Generationen, und meine Oma war dabei. Dass einstige Todfeinde zu Kompromissen fanden, war ihr historisches Wunder. Und schon ihr Enkel hat es in seiner spontanen Chronik vergessen.

Ja, demokratische Entwicklung war mir eine Selbstverständlichkeit, bis die Gegenwart sie als ein Vorhaben entlarvt hat, eines unter vielen. Österreich steht mit einem Bein im autoritären Nonsens, und das zweite zieht gerade nach.

Überfällige Reformen

Die Zivilgesellschaft ist stark, aber auch müde und zornig. Blendwerk entfaltet seine Zugkraft in pseudoöffentlichen Paralleluniversen, wo demokratische Ambition sich auf Votings beschränkt. Vor Wahlen rollen die Angriffe der Bot-Armeen, weltweit erkennen Neofaschisten ihre historische Gelegenheit, die Vormacht der Demokratie zu brechen. Aber noch platzen nur die Spamfilter.

Ja, die Zeiten haben sich geändert. Politische Hinterzimmer fliegen uns als Chatrooms um die Ohren. Über das Handy haben wir mehr Zugang zu Information als der US-Präsident in den 1980ern.

Wir wissen genau, dass Rohstoffe für unsere smarten Meinungsmaschinen von versklavten Kindern aus kongolesischen Minen gekratzt werden. Solang nicht einmal die Lieferketten menschenwürdig reguliert sind, die das Schicksal dieser Kinder mit unserem verknüpfen, gibt es keine Demokratie zu retten, sondern ein Zusammenleben zu demokratisieren. Diese Aufgabe haben wir mit den Gründern der Republik gemeinsam. Es gibt viel zu tun, auch in Österreich. Und 2024 entscheiden wir, wer es tun soll.

Wer soll Systeme für Bildung, Gesundheit und Soziales tragfähig entwickeln? Wer soll Medienförderung neu ordnen, den lebensprägenden Druck auf Armutsbetroffene lindern, Lohnnebenkosten senken, Femizide stoppen, Mitsprache für Arbeitende ohne Wahlrecht organisieren, Altersarmut und Korruption bekämpfen und Klimapolitik zum Wirtschaftsmotor entwickeln? Wer soll all das und noch viel mehr in Angriff nehmen? Völkische Faschisten oder demokratisch Gesinnte?

Sicher ist: Reformen sind überfällig. Wer ihren Charakter prägen wird, darüber stimmen wir im kommenden Jahr ab.

Deklarier dich, engagier dich, mach deutlich, wofür du stehst! Das sage ich in kürzer werdenden Abständen zu mir selbst. Denn ich lebe gern hier, liebe Land und Leute, Österreich ist für mich nicht austauschbar. Also los, zeig dich öffentlich als Demokrat!

Aber bin ich überhaupt einer? Treffe ich meine Entscheidungen auf Basis von Vernunft und Mitmenschlichkeit oder trage ich im öffentlichen Verkehr exakt so lang Maske, wie eine Verordnung besteht? Lupenrein bin ich sicher nicht. Wer Reinheit behauptet, hat keine Demokratisierung im Sinn. Das zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahre deutlich. Gerade klärt ein Gericht, ob der Altkanzler den Nationalrat belogen hat, um den Eindruck seiner Makellosigkeit zu erhalten.

Der Rechtsstaat funktioniert

Dieser Prozess macht offensichtlich, dass Freundeskreise und Seilschaften funktionieren. Aber der Rechtsstaat eben auch. Beides halte ich für eine gute Nachricht. Man kann in Österreich etwas bewegen, vielleicht sogar Bewegung werden. Aber man hat sich für sein Handeln zu verantworten, egal wie hoch man gejubelt wurde. In so einem Land will ich leben. Und was wollen die Autoritären?

Fossile Machtzentren, die von Energiewenden nur Verluste erwarten, fördern weltweit völkischen Aktivismus als Triebkraft für ihr zukunftsvergessenes Wüten. Rechte soll haben, wer sich Rechte leisten kann, besser noch, einfach nehmen. Das Recht hat der Politik zu folgen, die Demokratie ist für Schwächlinge, alle Macht den Stärksten.

Diese politische Richtung kann man getrost als Faschismus beschreiben und verlustfrei als Stumpfsinn ablehnen. Die Welt ist nicht so, wie Völkische sie beschreiben. Sie war nie so, und sie wird nie so sein. Halbstarken Fantasien von Homogenität steht eine potentere Alternative gegenüber. Die Demokratie will sich Realität nicht zurechtbiegen, sondern ihre widersprüchliche Vielfalt sehen, benennen und zum Gewinn aller fördern. So schafft sie Grundlagen für menschenwürdiges Leben.

Kein Grund zur Panik

Moderne Demokratie wurzelt nicht in Imperien, sondern in deren Überwindung. Aus Selbsterkenntnis schöpft sie ihre Kraft. Seit 1949 beginnt das Deutsche Grundgesetz aus gutem Grund mit der Menschenwürde. Österreich konnte sich um diese klare Reform drücken.

Bis heute stehen moderne Menschenrechte nur durch europäische Verträge im Verfassungsrang. In der Bundesverfassung fehlen sie. Wenn Deutschland die Menschenwürde abschaffen will, braucht es eine Revolution, in Österreich genügt eine Volksabstimmung.

Warten wir nicht, bis Neofaschisten an die Macht kommen, wundern wir uns heute schon, was alles möglich ist. Ja, Österreich könnte seinen demokratischen Faden schnell verlieren. Aber ein gemeinsames Vorhaben aller demokratisch Gesinnten wird helfen, ihn sogar noch fester aufzunehmen.

Zur Panik sehe ich keinen Grund, es bestehen beste Aussichten auf Erfolg. Denn demokratisch Gesinnte haben Antidemokraten etwas Entscheidendes voraus. Wir achten einander als Menschen. Wir trauen einander auch Gutes zu. Wo Autoritäre sich in der eifersüchtigen Bündelung von Gewalten überheben, verteilt Demokratie sie vertrauensvoll auf viele Schultern. Und darin ist Österreich besonders gut. Dessen sollten wir uns besinnen.

Zwei Wege stehen offen

So unentschlossen die Republik bei Menschenrechten ist, so selbstbewusst verteilt sie Einfluss. Kein anderes Grundgesetz dieser Welt hebt Kammern für Arbeit und Wirtschaft gleichermaßen in Verfassungsrang. Österreich weiß, wie man Verwaltung von Territorien unabhängig macht. Das könnte unser Beitrag zu einer Demokratisierung Europas sein.

Zwei Wege stehen offen, rein in die Demokratie und raus. Österreich wird entweder zum Vorreiter in sozialen Fragen oder zum Nachzügler ins Autoritäre. Das ist eine echte Wahl. Sie wird uns nicht schwerfallen. Und irgendwann erzählen wir unseren Enkeln: „Da war ich dabei.“ Trauen wir einander etwas Gutes zu.

Der Autor

Hosea Ratschiller (* 1981 in Klagenfurt) studierte Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft in Wien. Arbeitet als Radiomacher, Schauspieler und Kabarettist. Sein Buch „Den Vater zur Welt bringen“ erschien bei Molden/Styria. 

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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