Gastkommentar

Bergkarabachs Untergang, Armeniens Gefährdung

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Wie Armeniens Premier Nikol Paschinjan Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier, zum Unglücksrabennest wandelte.

Als glücklich ließe sich im Rückblick nur eine kurze Phase der armenischen Geschichte in der Spätantike bezeichnen, als sich das Königreich vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer erstreckte. 301 gründete König Tiridates die weltweit erste Staatskirche. Ein Königsdrama der ein halbes Jahrhundert später regierenden arianischen Arsakiden zerrüttete die Substanz des Landes: Die besten Geschlechter wurden getötet und die Kirche, die in diesem Jahrhundert noch zahlreiche heilige Bischöfe stellte, bekämpft.

Der Antichalkedonismus des folgenden fünften Jahrhunderts erwies sich für Armenien als nicht weniger tragisch: Er kappte die Armenier von der Gesamtkirche ab, sodass sie fortan in einer randständigen Kapsel abgeschlossen lebten, weitgehend vom kulturellen Austausch und der Sauerstoffzufuhr von außen isoliert. Bis heute lebt Armenien als eine Art Monade, die nun nach Verlust alter Bündnispartner existenziell gefährdet ist und gänzlich vernichtet zu werden droht.

Nach dem Untergang des Königreichs blieb den Armeniern schließlich nur noch das Gebiet des heutigen Bergkarabach. Dieses Gebiet, das die Armenier Arzach nennen, gehörte seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert zum sich vom Ararat ausdehnenden Reich von Urartu, in dem die armenische Nationalgeschichtsschreibung das Vorgängerreich Armeniens erblickt.

Bergkarabach war nicht nur im militärischen Sinne ein réduit Armeniens. Es war das einzige Gebiet, in dem der altarmenische Adel überlebt hatte, in dem die Armenier über die Jahrhunderte autochthon lebten und nicht in einer Diasporasituation. Es war der Rückzugsort authentischer armenischer Kultur.

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Alle anderen Gebiete, auch das der Republik Armenien, sind vor allem von Repatrianten geprägt. Im Gebiet der Republik Armenien und in Westarmenien lebten die Armenier jahrhundertelang unter anderen Völkern. Meist als auf andere Völker bezogenes Mittlervolk, in fremden Diensten, als Mündel und Dragomanen fremder Herrscher. Sie vollbrachten große kulturelle, politische und militärische Leistungen in Ostrom und der weltweiten Diaspora. Aber nur in Bergkarabach lebten sie unter sich und für sich, als Herren über sich und ihr Land. Sie verkörperten über Jahrhunderte die Souveränität Armeniens. Die Karabacharmenier besaßen eine andere Sichtweise auf die Welt als die verstreuten Spjurk­armenier, die stets mit Blick auf die fremde Herrschaft lebten, von deren Gnade sie abhängig waren, und die oft bedrohliche Umgebung, deren Willkür sie ausgesetzt waren.

Tragische Ablösung 2018

Möglicherweise erwies sich gerade deshalb die Ablösung der Kara­bach­armenier in der Staatsführung in der Samtenen Revolution von 2018 als tragisch. Durch seine sprunghafte Diplomatie und seine wechselhaften Aussagen gegenüber den Nachbarländern verwandelte der neu gewählte armenische Premier Nikol Paschinjan Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier, innerhalb von zwei Jahren in Urartus Unglücksrabennest. Bergkarabach war der einzige Teil des Landes, in dem die Armenier seit der Spätantike nicht auf der schiefen Ebene der Abhängigkeit von äußeren Mächten, einer fremden Willkür ausgesetzt, lebten.

Insofern ist die Frage der Souveränität auch eine kulturelle Frage, ihre Bedeutung mentalitätsprägend. In Anwendung der Begrifflichkeit des britischen Publizisten David Goodhart könnte man sagen, dass im September 2023 die Bastion der historischen Somewhere­armenier untergegangen und nun ein territorialer Rest Anywhere­armeniens erhalten blieb. Hierin ist vielleicht die bleibende kulturelle Bedeutung des Untergangs Bergkarabachs, das die Armenier Arzach nennen, für Armenien zu sehen.

Lebensversicherung gekündigt

Durch seine sukzessive Lösung des engen Verhältnisses zu Russland seit 2018 und seine Annäherungsversuche an den Westen kündigte der Politiker Nikol Paschinjan die bisherige armenische Lebensversicherung, ohne vorher eine neue Lebensversicherung abgeschlossen zu haben. Aus Sicht der armenischen Opposition verschenkte er damit Karabach und verriet seine Landsleute. Inzwischen gefährdet er auch die Republik Armenien in ihrer Existenz.

Die Rolle Europas im Spannungsfeld zwischen Baku und Jerewan ließe sich als ambivalent bezeichnen. Ende Februar 2023 entsandte die EU die EUMA (European Union Mission in Armenia) mit dem strategischen Ziel, einen Beitrag zur Verringerung der Zahl der Zwischenfälle in dem Konfliktgebiet zu leisten, das Risiko für die dort lebende Bevölkerung zu verringern und damit zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen. Auf die Kriegshandlungen im September konnte die Mission wenig Einfluss nehmen. Ursula von der Leyen, die im Herbst 2019 zu ihrem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsidentin ankündigte: „Wir wollen eine starke geopolitische Kommission sein“, nannte Aserbaidschan 2022 einen „entscheidenden Partner auf dem Weg zu Versorgungssicherheit und Klimaneutralität”.

Ganz Armenien bedroht

Die tschechische Abgeordnete Markéta Gregorová von der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament betonte, es liege im strategischen Interesse Europas, dass „der Einfluss Russlands in Armenien und der Region minimiert wird, Aserbaidschan auf dem Weg zu Demokratie unterstützt wird und der Jahrzehnte währende Konflikt gelöst wird“. Die Einnahme der armenischen Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan konnte den strategischen Einfluss Russlands freilich nur auf Kosten der vertriebenen Karabacharmenier reduzieren.

Durch den am 3. Oktober 2023 erfolgten Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, der einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, distanzierte sich Armenien noch weiter von Moskau. Am 12. Oktober blieben sowohl Nikol Paschinjan als auch sein Außenminister dem GUS-Gipfel in Bischkek fern. Mittlerweile ist auch das Territorium der Republik Armenien bedroht. Präsident Alijew erklärte derweil, er betrachte die Republik Armenien als historisches Territorium Westaserbaidschans. Das Hauptinteresse Aserbaidschans wird dabei sein, eine Landverbindung zur Türkei zu schaffen. Ein Gegenspieler ist der Iran, den gerade diese Landverbindung nach Norden abschneiden würde. Je mehr sich Armenien jedoch der EU und den USA annähert, desto mehr entfremdet es sich dem Iran. Bereits die Eröffnung einer armenischen Botschaft in Tel Aviv im Sommer 2020 hat in Teheran für Irritationen gesorgt, ohne die Militär­allianz Israels mit Aserbaidschan schwächen zu können.

Realismus ist Notwendigkeit

Geht es ums physische Überleben, ist Realismus für die in ihrer nackten Existenz Bedrohten ein Gebot der Notwendigkeit. Die Mittellage verzeiht keine Fehler. Sie bestraft sie vernichtend. Glücklich sind die Völker in Randlage.

2011 wurde in Armenien Schach als Schulpflichtfach eingeführt, um das strategische Denken zu fördern. Nikol Paschinjan hat die Position seines Landes kaum verbessert.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Printausgabe 11.1.2024)

Der Autor:

Philipp Ammon
ist Historiker und Kaukasiologe. 2020 erschien im Verlag Vittorio Klostermann „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation:
Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924“.

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