Gastkommentar

Extremismus vom Fluss bis zum Meer

Ein israelischer Soladt im Einsatz im Gaza Streifen am 24. Jänner 2024. (Foto von der Israel Defense Force zur Verfügung gestellt für Reuters.)
Ein israelischer Soladt im Einsatz im Gaza Streifen am 24. Jänner 2024. (Foto von der Israel Defense Force zur Verfügung gestellt für Reuters.) Reuters / Israel Defense Forces
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Im Angesicht des wütenden Krieges im Nahen Osten sind die Gemüter erhitzt. Extremisten auf beiden Seiten haben politisch profitiert.

Der ehemalige Ministerpräsident Schwedens, Mitglied der konservartiven Moderaten Sammlungspartei argumentiert in diesem Text, dass der gegenwärtige öffentliche Diskurs weder in Israel noch in den palästinensischen Gebieten von Befürwortern einer Zweistaatenlösung beherrscht werde.

Die Zahl der Todesopfer unter den Palästinensern im Gazastreifen liegt Berichten zufolge inzwischen bei über 25.000, ein Ende der Kämpfe ist noch immer nicht in Sicht, und auch über die strategischen Ziele Israels herrscht Unklarheit. Die Diskussionen darüber, wie es dereinst nach dem Krieg weitergehen soll, gewinnen an Intensität. Die Vereinigten Staaten sprechen sich immer lauter für die Wiederaufnahme der Bemühungen um eine Zweistaatenlösung aus, die seit Jahren die Politik der Europäischen Union und des größten Teils der internationalen Gemeinschaft ist. Die Arabische Friedensinitiative zielt ebenfalls auf die Schaffung von zwei Staaten für die beiden Völker zwischen Mittelmeer und Jordan ab.

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Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hingegen hat sich erneut ausdrücklich dagegen ausgesprochen: „Ich werde keine Kompromisse eingehen, wenn es um die volle israelische Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordans geht – und das steht im Widerspruch zu einem palästinensischen Staat.“ Damit bestätigt sich, was viele schon lange vermutet hatten: Seit Jahren versucht Netanjahu mit seiner Politik, jede Bewegung in Richtung einer Zweistaatenlösung zu blockieren, und das ist ihm weitgehend gelungen.

Bedauerlicherweise wird der gegenwärtige öffentliche Diskurs weder in Israel noch in den palästinensischen Gebieten von Befürwortern einer Zweistaatenlösung beherrscht.

Im Angesicht des wütenden Krieges sind die Gemüter erhitzt, und Extremisten auf beiden Seiten haben politisch profitiert. Das Gefühl der gegenseitigen Feindschaft vertieft sich, und den langfristigen Möglichkeiten für einen Frieden wird kaum Beachtung geschenkt. Doch das wird sich irgendwann ändern und unter Umständen konstruktivere Formen des Diskurses ermöglichen.

Schritt zur Zwei-Staaten-Zukunft wird nicht einfach

Es ist klar, dass der Schritt vom derzeit herrschenden Krieg zu einer Zwei-Staaten-Zukunft nicht einfach sein wird. Die Grenzfragen müssen geklärt werden, ebenso wie der Status von Jerusalem (der für beide Seiten vielleicht heikelste Aspekt des Konflikts). Die ausgedehnten illegalen jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sind nach wie vor eines der größten und offensichtlichsten Hindernisse für Fortschritte.

Doch eine letztendliche Zweistaatenlösung ist nicht so unvorstellbar oder undenkbar, wie Kritiker behaupten. Im Gegenteil, es liegen zahlreiche Blaupausen vor. Vor einigen Jahren veröffentlichte die US-amerikanische Denkfabrik RAND ein visionäres Forschungspapier, in dem „ein Bogen“ palästinensischer Städte durch eine moderne Eisenbahnlinie sowohl mit dem Gazastreifen im Süden als auch mit dem Hafen von Haifa im Norden verbunden ist.

Das Problem besteht natürlich darin, dass die Zweistaatenlösung nicht die einzige Option ist. An den äußeren Enden des israelischen und palästinensischen politischen Spektrums wird die Schaffung eines Staates „vom Fluss bis zum Meer“ bevorzugt. Je nachdem, welche Seite sich durchsetzt, wäre dies entweder ein palästinensischer Staat, der den Staat Israel ersetzt (und somit auslöscht), oder ein jüdischer Staat, der die Idee einer palästinensischen Staatlichkeit in diesem Gebiet ablehnt.

Ja, theoretisch könnte man sich auch einen einzigen Staat vorstellen, in dem Juden und Palästinenser friedlich in einem demokratischen politischen System zusammenleben, das gleiche Rechte für alle garantiert. In der Praxis dürfte es allerdings Jahrhunderte dauern, dieses Ergebnis zu erzielen. Da wir dafür keine Zeit haben, ist diese Zukunftsvision wirklich nicht relevant.

Die Version der Hamas von „vom Fluss bis zum Meer“ ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Israel hat nicht nur das Recht, sich selbst zu verteidigen, sondern seine Existenz wird auch von der internationalen Gemeinschaft und einem Großteil der arabischen Welt nachdrücklich unterstützt. Während der militärische Flügel der Hamas weiterhin für seine unrealistische Option eintritt, haben ihre politischen Führer bisweilen davon gesprochen, einen langfristigen Waffenstillstand („Hudna“) zu akzeptieren, was eine de facto Anerkennung des „zionistischen Gebildes“ bedeutet.

Die extreme israelische Version von „vom Fluss bis zum Meer“, die jetzt von Teilen der Regierung Netanjahu ausdrücklich befürwortet wird, fordert Maßnahmen, um die mehr als fünf Millionen Palästinenser, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, zum Verlassen des Landes zu „ermutigen“. Den wenigen Verbleibenden würden die politischen Rechte vorenthalten, was zu einem Staat führen würde, der auf einer Kombination aus ethnischer Säuberung und expliziter Apartheid beruht. Dieser Weg würde höchstwahrscheinlich zu neuen Gewaltausbrüchen und Konflikten führen und die Region in noch mehr Chaos stürzen.

Netanjahu hat sich zwar gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen, aber er hat nicht einmal im Entferntesten deutlich gemacht, welches Ergebnis er befürworten würde. Orientierungslos und von einer Krise in die nächste stolpernd, führt er Israel – ob vorsätzlich oder nicht – auf den von seinen extremsten Verbündeten favorisierten Weg der Einstaatenlösung und damit immer weiter weg von einem möglichen Frieden.

Angesichts der Alternativen – die man nicht einmal als „Lösungen“ bezeichnen kann – bleibt eine Zweistaatenlösung die einzige gangbare Option für den Frieden. Sobald die derzeitigen Kämpfe beendet sind (je eher, desto besser), müssen sich alle diplomatischen Bemühungen und der Wiederaufbau darauf konzentrieren, die Region wieder auf den Weg der Zweistaatenlösung zu bringen. Die Extremisten auf beiden Seiten werden „vom Fluss bis zum Meer“ skandieren und Widerstand leisten, aber es ist zu hoffen, dass sich die jeweiligen gemäßigten Kräfte mit der Unterstützung von Schlüsselakteuren wie den USA, der EU und den arabischen Staaten letztlich durchsetzen können. Sie, und nur sie, können glaubhaft behaupten, dass sie wissen, welcher Weg zum Frieden führen wird.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

Carl Bildt (*1949) ist ehemaliger Ministerpräsident und Außenminister Schwedens. Er war von 1991 bis 1994 Ministerpräsident von Schweden, nach dem Dayton-Abkommen von 1995 bis 1997 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina und von 2006 bis 2014 schwedischer Außenminister. Er war Politiker der Moderata samlingspartiet, sie ist eine bürgerlich-konservative Partei mit liberalem Wirtschaftsprogramm.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

Carl Bildt, 2009.
Carl Bildt, 2009.AP Photo/Yves Logghe

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