Notensystem

„Es gibt keine Alternative zu Noten – deshalb gibt es sie“

Irgendetwas ist gut. In Notensprache kann ich das nicht übersetzen.
Irgendetwas ist gut. In Notensprache kann ich das nicht übersetzen.Foto: Theodor Barth/Picturedesk
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Ich begleite die Kinder emotional, sozial, fachlich, geistig. Am Ende muss ich alles in eine Note gießen, die nichts über ihre vielen anderen Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre Erkenntnisse, ihren Fortschritt aussagt.

Fünf Karten in meinen Händen. Wir spielen ein Spiel: dasjenige, bei dem man Noten gewinnen kann. Was mit dem Gewinn gemacht wird, ergibt sich nach dem Ende des Spiels.  

Manche haben gute Karten zugeteilt bekommen, manche fluchen. Einige haben sich gleich abgewandt. Andere sortieren eifrig, manche seufzen, wollen eigentlich ein anderes Spiel spielen. Ich spiele nur mehr pro forma mit, beobachte die anderen.

Eins. Großvater mit dem Rasiermesser

Von der ersten Karte in meinen Händen sieht mich mein Großvater an. Herz König. Ich bin Lehrerin in fünfter Generation, mindestens. Ich habe übrigens gute Karten ausgeteilt bekommen.

Als ich klitzeklein war, durfte ich in seine Volksschulklasse mitkommen und einen Film ansehen, nämlich „Die Stadtmaus und die Feldmaus“, animierte Puppen in Schwarz-Weiß. Große Spulen wurden ins Gerät eingespannt.

Mein Großvater war Direktor und einziger Lehrer einer winzigen Schule. Allen Erzählungen nach muss er seine Arbeit gut gemacht haben; zum Beispiel heißt es, er habe den Schulanfängern eine Geschichte von einem Maler erzählt, der seine Klappleiter aufstellt. Dann fällt er um, der Arme. Was schreit er? „Aaahh!“

Er selbst hat mir erzählt, ein ehemaliger Schüler habe sich mit der Bitte um Hilfe an ihn gewandt. Er wollte sich um eine Lehrstelle bewerben, das Abschlusszeugnis der weiterführenden Schule – Handschrift auf Papier – enthielt die Ziffer 4 in Betragen, und der Schüler, von dessen generellem Benehmen Opa kein Wort verlor, befürchtete, dieser Note wegen keine Chance zu haben. Offenbar wusste er, dass auf seinen Volksschullehrer Verlass war. Mein Großvater, der zeitlebens ein striktes Verständnis von richtig und falsch gezeigt hat, griff zum Rasiermesser. Und schabte der Vier mit dem steilen Aufstrich ein Stückchen weg. Aus dem Vierer war ein Einser geworden.

Zwei. Mauthausen

An einem Wintersamstag – ich bin zu einem Seminar hier – gehe ich über den Appellplatz der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Ich komme aus dem Tötungstrakt. Es ist fast völlig still. Nur ein Fensterladen klappert leise an den Rahmen; ich sehe mich um, denke kurz, jemand klopft an die Scheibe, weil er mir etwas sagen will.

Vor Kurzem erzählte mir eine Schülerin, sie sei mit ihrer letzten Klasse schon hier gewesen. Es sei „langweilig“ gewesen. Ich schaue mich um. Wenn nicht erzählt wird, was hier verbrochen wurde, dann sehen Vierzehnjährige wohl wirklich nur ein paar Gebäude aus Holz. Und eine Steinmauer.

Jemand aus dem Seminar stößt zu mir, Mitarbeiter einer Pädagogischen Hochschule. Ich erzähle ihm von der fadisierten Schülerin. Wenigstens, sagt er, sei das ein Kind. Vortragende an der PH hätten von Studierenden berichtet, die das Volksschullehramt anstreben. Und dass einige davon auf die Frage, was 1945 passiert sei, keine Antwort wissen.

Quo vadis, Abendland, sage ich, als wir um die Ecke Richtung Besucherzentrum biegen. Das sind Menschen mit österreichischer Matura. Was ist die Matura wert? Was ist es wert zu wissen, was müssen wir wissen? Was dürfen wir hoffen (und, Kant folgend: Was sollen wir tun, was ist der Mensch)?

Mir fällt einer meiner Schüler ein, mein Großvater hätte ihn als „Falott“ bezeichnet. Er tanzt auf den Nerven der Lehrer, ist manchmal aggressiv, zeigt lächelnd seine Ablehnung gegenüber dem System Schule. Er wird keine Betragensnote mehr bekommen (in der achten Schulstufe vergibt man gegenwärtig keine mehr). Vor Kurzem sprachen wir in der Klasse über Bestattungsformen, jemand brachte „das Einfrieren“ aufs Tapet. Jener, der mir so oft signalisiert hat, wie egal ihm alles ist, sagte: Das ist keine gute Idee. Wenn sie dich auftauen, kennst du niemanden mehr. Du hast dann keine Freunde . . .

Irgendetwas ist gut. In Notensprache kann ich das nicht übersetzen. Der Bursche hat eine Lehrstelle gefunden, über Verwandte, bei den berufspraktischen Tagen hieß es, er sei pünktlich, habe alles zur Zufriedenheit erledigt.

Manche der Schülerinnen und Schüler wirken, als fühlten sie sich wie in einem Science-Fiction-Film. Fremd auf einem anderen Planeten. Sie können Dinge, die ich nicht kann. Traktorfahren zum Beispiel, gelernt auf dem Bauernhof der Großeltern in einem anderen Land. Manche sind hierher verpflanzt, hocken in einer winzigen Wohnung, verstehen die Welt nicht. Als ich in einer ersten Klasse die erste Seite des Geografiebuchs aufschlage und frage, was denn das heiße – es steht da –, „den Boden bearbeiten“, zeigt ein Kind auf und sagt: Fliesen legen.

Ich begleite die Kinder emotional, sozial, fachlich, geistig (einer meiner Schüler musste jahrelang immer wieder lachen über dieses Wort, erst oft wiederholte Erklärungen ließen ihn verstehen, dass es keine Beleidigung ist). Am Ende muss ich alles in eine Note gießen, die nichts über ihre vielen anderen Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre Erkenntnisse, ihren Fortschritt aussagt. Ich versuche also, so akkurat wie möglich zu sammeln, welche (und wie viel) Arbeit sie leisten.

Drei. Filmsets, Bühnen, Klassenräume

Ich höre Menschen aus der Kreativbranche, aus Film und Theater, klagen: Die Jungen, sagen sie, gehen einfach weg von der Arbeit, wenn sie sich überfordert fühlen. Die Notwendigkeit, eine Arbeit zu erledigen, auch wenn sie hart und schwierig ist, wird nicht mehr als Teil eigener Verantwortung gesehen, sondern abgeschoben. Seit ich weiß, dass ich diesen Text schreiben soll, höre und lese ich „zufällig“ (wie das so ist, wenn sich das Sensorium auf einen bestimmten Punkt ausrichtet) gehäuft Wortmeldungen rund um das Thema Leistung.

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